Ohne Netz
man auch erst mal kommen, gerade diese extrem entfremdete, tote Zeit, in der man nichts mit sich selbst zu tun hat, als Glückseligkeitsinsel zu begreifen, als Momente, in denen man noch bei sich sei.
Außerdem stimmt es nicht mal, wir sind mittlerweile auch im Auto vernetzt. Zwei Leute haben mir im Verlauf der letzten Wochen gestanden, dass sie beim Mailen, Surfen, Simsen einen Unfall gebaut haben, vier andere sagen, dass sie während des Autofahrens permanent ihr Smartphone in Reichweite haben. Ein Fotograf erzählt, er fahre beruflich täglich mehrere Stunden herum, »da geht das gar nicht anders. Früher habe ich all meine Telefonate auf die Autofahrten verlegt, das war schon gefährlich genug. Aber heute – wirklich der Wahnsinn, was ich da mache, aber ich kann’s nicht lassen. Kaum stehe ich an der Ampel, checke ich Mails, simse, kucke bei Spiegel online rein. Ich hab mal auf Youtube einen Film des britischen Verkehrsministeriums gesehen, die ziehen alle Register, ein Unfall, perfekt inszeniert, eine junge Frau schreibt während des Fahrens eine SMS und fährt frontal in eine Familie. Wird alles in Zeitlupe gezeigt, man hört das Knacken der Wirbelsäule, am Ende die regungslose Familie, nur die Zweijährige wird hinten mit dem Schweißbrenner rausgeschnitten und wimmert ˂Mama, Mama.˃ Ich bin horrorfilmerprobt, aber das hat funktioniert, danach hab ich mich zwei Wochen lang diszipliniert.« Wie? Nur zwei Wochen? Und jetzt? »Ist es wieder wie immer.«
Da ich das mit den Unfällen gar nicht glauben konnte (ich dachte, das muss doch rauskommen, die Polizei braucht ja bloß das Verlaufsprotokoll der Geräte anzuschauen), habe ich heute Morgen die Pressestelle der Münchner Polizei angerufen und gefragt, wie viele Unfälle durch Handygebrauch verursacht würden.
»Das wissen wir nicht.«
»Schauen Sie denn nach einem Unfall nicht in das Verlaufsprotokoll der Handys?«
»Das dürfen wir nur, wenn der Unfallverursacher uns gegenüber zugibt, dass er ein Handy benutzt hat.«
»Aber das gibt doch kein Mensch zu.«
»Eben. Wir wissen aber andererseits von unseren Streifen, dass nicht viele Leute während des Fahrens telefonieren. Und ich selbst war bis vor vier Jahren beim Unfallkommando und kann sagen, dass selten Handys in Unfälle involviert waren.«
Vor vier Jahren ... Kriegt die Polizei denn nicht mit, dass heutige Smartphones mit vier Jahre alten Handys ungefähr soviel zu tun haben wie ein Ferrari-Bolide mit Henry Fords ersten Autokisten? Diejenigen, die mir gegenüber ihre Unfälle oder ihr Gedaddel während des Autofahrens zugaben, hatten nicht telefoniert, sondern gesimst, News gelesen, Mails gecheckt oder ihren Zielort auf Google Maps eingegeben. Dafür muss man das Handy nicht polizeistreifenkompatibel am Ohr halten, das macht man unterm Lenker.
31. JANUAR
Die Freundin, die erzählt, ihr Mann sei als freier Kameramann natürlich angewiesen auf Aufträge und müsse sich deshalb viel umtun im Netz: »Aber mittlerweile ist der mehr am Surfen als am Leben. Ich bin’s gewöhnt, so ist es halt. Aber für unsere Tochter tut es mir leid. Er ist ja ohnehin viel weg, aber auch, wenn er dann mal da ist, ist er nicht wirklich präsent. Das Smartphone ist immer wichtiger als unser Alltag, beim Essen, beim Reden, wenn unsere Tochter was aus der Schule erzählt: Sobald das Ding schnarrt, wird alles andere für ihn uninteressanter Hintergrund. Und meine Tochter sitzt dann mit ihrer halb erzählten Geschichte da und schaut verwundert, was er jetzt wieder rumtippen muss.«
Die Bekannte, die sagt, der Urlaub mit dem befreundeten Rechtsanwalt sei eine einzige Pleite gewesen, weil der seinen Blackberry nicht aus der Hand habe legen können: »Als ich irgendwann wütend wurde, schrie er mich an: ˃Kapiert ihr das nicht? Wenn ich den ausmache, bin ich draußen!˂ Ich hab’s nicht rausbekommen: Hat der sich seine Sucht schöngeredet? Oder hat er tatsächlich diesen Druck? Der Urlaub war jedenfalls eine Katastrophe.«
Wo fängt die hausgemachte Zerstreuung an? Wo hört der objektive Arbeitsdruck auf? Der Online-Kollege, der täglich zehn Stunden die Nachrichtenportale im Blick haben muss; der Grafiker, der Tag um Tag im Netz nach Aufträgen jagt – was könnten die groß anders machen?
Bolko von Oetinger, ehemals Senior Partner von Boston Consulting, erzählte mir am Telefon, all die jüngeren Kollegen seien verwachsen mit ihren Smartphones. »Natürlich kommunizieren die mehr, als wir früher. Aber die denken
Weitere Kostenlose Bücher