Ohne Netz
Mikrofiche! Unglaublich. Das sind diese mit fitzelkleiner Schrift bedeckten Folien, von deren Gebrauch man migränöse Sehschlieren bekam. Ich setze mich davor, lege eine der roten Folien ein, um nach Thoreau zu suchen, und es beginnt eine wilde Achterbahnfahrt durch Kleinstgedrucktes, ich verrutsche permanent in den Spalten, lande mal bei Uwe Timm, mal bei einem russisch klingenden Halbleiterphysiker, stimme wieder einen Lobgesang auf das Internet als beste Wissensorganisationsmaschine der Menschheitsgeschichte an und fahre danach weiter zum Deutschen Museum.
Dessen Bibliothek ist spezialisiert auf Technik und Technikgeschichte und wirkt als Ort wie ein Soziotop der Entschleunigung: Ein langgezogener Lesesaal, in den die blasse, ferne Wintersonne scheint; Linoleumtische; knarzende Holzstühle. Im Ausgabebereich waltet eine Frau ihres Amtes, die in ihrem Tun von einer stoischen Ruhe beseelt zu sein scheint: Ja, man muss für jedes einzelne Buch einen Ausleihschein ausfüllen, auf dem auch jeweils die gesamte Adresse einzutragen ist. Nein, man kann hier nicht einfach selber kopieren. Doch, sie kann das sehr wohl, aber dazu sind genau die jeweiligen Seitenzahlen aufzulisten. Bitte deutlicher schreiben und wie gesagt, mit »Zweites Kapitel« kann sie nichts anfangen. Kommen Sie in einer halben Stunde wieder, dann kriegen Sie Ihre Bücher. Während ich mir die Wartezeit vertreibe, indem ich an den endlosen Regalen entlangtreidle, – halt, hallo Sie, kommen Sie noch mal zurück, bitte auf dem dritten Zettel auch noch Ihre Postleitzahl eintragen – frage ich mich, wie die Leute wohl reagiert hätten, wenn erst das Netz da gewesen wäre und jetzt, als technische Neuerung, der gedruckte Text dazukäme. Wahrscheinlich würde man ganz ähnliche Euphorien und Ängste auf die Bücher projizieren wie jetzt auf das Internet ...
... Früher, in der rein digitalen Zeit, war alles gut. Die Welt war sorgsam sortiert in einem unendlich filigran aufgefächerten Netzwerk, in dem man auf alles geordneten Zugriff hatte: Suchte man nach Henry David Thoreau, bekam man dessen wichtigste Werke, die Kritik an ihm und die geistesgeschichtliche Einordnung aufgelistet. Man konnte blitzschnell durch alle Texte scrollen und blieb trotzdem Herr seiner selbst, denn die Texte absorbierten einen nicht, man nahm Stichproben und wusste danach Bescheid. Google, die Gigantische Organisations-Ordonanz für Glück, Leben und Effizienz entschied, was richtig und wichtig für einen war, und spielte einem täglich einige Texte auf den Rechner, die exquisit zum eigenen Persönlichkeitsprofil passten.
Dann aber kamen plötzlich diese jungen Revoluzzer, die all die Sachen ausdruckten, zu sogenannten Büchern zusammenhefteten und sich tagelang darin vergruben. Es begann in einer Garage in Kalifornien, einem völlig verarmten Bundesstaat im Westen der USA. Der Sohn eines Informatikers schnitt eines Nachts Computerverpackungen auseinander, baute sich den Prototypen eines Geräts, das später Drucker heißen sollte, und lud den Text, den er gerade auf dem Bildschirm hatte, auf die groben braunen Pappbögen runter. Seine Freunde waren begeistert und wollten auch solche Ausdrucke haben, wie er die beschrifteten Pappen nannte. Sie begannen schnell damit, diese Pappbögen miteinander auszutauschen. Irgendwann band einer von ihnen die losen dicken Bögen zu einem unförmigen Konvolut zusammen. Ein Austauschstudent aus den kanadischen Wäldern hatte einen Vater, der vor Jahren schon aus den Kartons sogenanntes Papier hergestellt hatte, für seine Erfindung aber verlacht wurde: Was sollte man mit derart dünner Pappe, fragten alle, da kann man doch kaum was drin verpacken? Die Studenten aber konnten plötzlich dank des Papiers sehr viel mehr Informationen in ein einzelnes Konvolut packen und nannten das Ding Buch.
Einer von ihnen stapelte zu Hause Bretter an die Wand und vernetzte die Bücher, indem er sie nebeneinander und übereinander stellte. Er und seine Freunde trafen sich zu tagelangen Bücherpartys. Der Junge versuchte, seine Erfindung an Google zu verkaufen, aber Google lachte nur, wer braucht denn so was. Später sollten die Betreiber des Suchmaschinenmonopolisten sehen, dass das der größte Fehler in der Firmengeschichte war: Es entstanden Verlagshäuser, die all die Texte kurzerhand auf immer besseres Papier druckten. Google überzog die Verlage natürlich mit Klagen, klauten diese Verleger ihnen doch kaltschnäuzig all die Texte, an denen sie die
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