Ohne Netz
verrückt, dass ab Mitte der neunzigerjahre in allen Verlagen der Welt für teuer Geld extra Leute eingestellt wurden, nur damit sie die Inhalte der Zeitungen in möglichst schöner Verpackung an die digitale Gemeinde verschenken. Keiner der vielen Experten hat seinerzeit geahnt, welche Kraft das Netz in kürzester Zeit gewinnen würde, man dachte eher an irgendein gemütliches Zusatzgeschäft, das eines Tages in der digitalen Nische schon Geld abwerfen werde. Jetzt füttern wir kleinen Zuträger die Riesenmaschine um die Wette mit dem Wertvollsten, was wir haben, und hoffen im Gegenzug auf höhere Visit- und Klickzahlen. Die Zeitungen schütten Gold ins Netz und bekommen Brotkrumen zurück: Man verschenkt Reportagen, für die man weite Reisen unternehmen muss, oder aufwändig recherchierte Meinungsstücke und darf dann hoffen, dass durch viele Klickzahlen auf der Homepage die Werbeeinnahmen um ein paar Cent hochgehen.
2. FEBRUAR
Franz M. ist ein bayerischer Buddha, ein feste Burg, mein Stecken und Stab in der SZ. Seit ich Franz kenne, glaube ich nicht, dass Boddhidarma in den Orient aufbrach, er ist vielmehr seinerzeit nach Bayern gewandert und hat sich nördlich von München niedergelassen, in dem hügeligen Städtchen, in dem Franz beheimatet ist. Während der ersten Zeitungskrise, 2001, fragte ihn einmal ein blassgesichtiger Wirtschaftsredakteur: »Franz, Franz, Franz, was sollen wir bloß tun?« Franz lief weiter den Gang hinab und sagte, ohne sich umzudrehen: »Ruhig atmen.«
Franz ist unser Dokumentar, und er ist gesegnet mit einem phänomenalen Gedächtnis. Sagt man, Franz, ich bräuchte was über Holland, Dänemark und die Schweiz, dazu, warum ausgerechnet diese kleinen Länder solch erfolgreiche Rechtspopulisten haben, sagt er, da habe es mal im »Zeit«-Magazin Anfang der Achtziger eine interessante Reportage gegeben. Eine halbe Stunde später steht er mit einem großen Packen ausgedruckter Texte in der Tür und fragt, ob ich das nächste halbe Jahr per Rohrpost kommunizieren wolle. Früher habe es im Haus dieses Röhrensystem gegeben, man musste die Artikel in Kartuschen stecken, thermoskannenähnliche Geschosse, die man dann durch die Stockwerke schicken konnte. Oben an der Kartusche wurde eine Buchstabenkombination eingegeben, ähnlich wie bei einem Zahlenschloss. Man warf die Kartusche in das dunkle Röhrensystem und dann kam sie dort an, wo man sie hinhaben wollte. Bei Weihnachstfesten seien regelmäßig Bierflaschen und Weißwürste verschickt worden, die es natürlich zerrissen habe, »das Ganze funktioniert ja mit am Mordsunterdruck«, sagt Franz, »so a Wurscht hoid des ned aus«, und dann sei wieder für viele Stunden Schicht im Schacht gewesen. Systemabstürze hat es also auch früher gegeben.
3. Februar
Jeder von uns hat ein-, zweimal im Monat Dienst. Man muss an diesen Tagen die Feuilleton-Seiten layouten, schaut, dass alle Texte pünktlich kommen, kümmert sich um Bilder, hat die Meldungen im Blick und sorgt dafür, dass jeder Text zumindest einmal von einem anderen Redakteur gegengelesen wird. Heute bin ich mal wieder dran. Eine schreckliche Tortur. Ich bekomme nichts mit von der Mitteilung, dass Lars Birken-Bertsch den Blumenbar Verlag verlässt, weil der Verlag das nur per Rund-Mail kundtut. Ich kann keine Bilder aussuchen zu einer großen Seurat-Ausstellung, weil man die von der Homepage des Museums herunterladen muss, und der Kunstredakteur Holger Liebs verdreht belustigt die Augen, als ich ihn bitte, die Fotos zu seinem Artikel über den Künstler Panamarenko selber zu suchen. Glasklarer Fall von digitalem Outsourcing. Ich bin Wieder einmal kurz davor, das ganze Experiment abzubrechen. Mein Chef Andrian Kreye, der die diensthabenden Redakteure eigentlich immer aus der großen Konferenz mit Mails von seinem Blackberry eindeckt, kommt nach eben dieser Konferenz in mein Büro und sagt: »Okay, dann also heute mal ganz langsam, analog und mündlich: Es ändert sich Folgendes ...«
Habe ich überhaupt schon mal gesagt, was für nette Kollegen ich habe? Ich glaube nicht. Die erlauben mir, sechs Monate lang als analoger Zausel durch die Redaktion zu laufen, ja zuweilen tragen sie mir auch noch Ausdrucke von Rund-Mails vorbei oder kommen, wie Evelyn vorhin, als »lebende Mail« vorbei, um mir zu sagen, dass wir heute früher belichten müssen. Möge die Sonne über ihnen leuchten und all ihren Nachkommen bis ins siebte Glied! Mögen sie im ICE des Schicksals immer einen Fensterplatz in
Weitere Kostenlose Bücher