Ohne Netz
Monopolrechte hatten.
Die Jugendlichen kamen ihren Eltern abhanden. Sie antworteten nicht mehr auf SMS, zogen sich zu tagelangen Lesemarathons zurück und unterhielten sich untereinander in diesem unverständlichen Fachchinesisch: Buch, Schrank, Regal, Einband, Kapitel. Die Eltern schickten Pädagogen und Fernsehteams in die schummrigen Häuser voller Bücher, sogenannte Bibliotheken. Die schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Wie ungeordnet darin alles war! Wie das Weltwissen auf einen einstürzte! Hunderte von Regalmetern, angefüllt mit engbedrucktem Zeug. Und keinerlei maschineller Algorithmus, der die Bücher sortierte.
Diese aufklappbaren Papiersammlungen absorbierten alle Aufmerksamkeit der Kinder, solange sie davor saßen, waren sie nicht mehr ansprechbar. Außerdem konnte man sich an den Seiten schneiden, ältere Bücher verursachten Stauballergien, schwere Werke konnten einem gar auf den Fuß fallen. Die Jugendlichen wirkten übernächtigt und sklerotisch, Orthopäden schlugen Alarm wegen Haltungsschäden. Man überlegte deshalb, das Ganze zu verbieten, schließlich zogen einen diese Bücher unerbittlich in ihren Sog. Die Jugendlichen sagten: Ihr versteht das nicht, Bücher sind fantastisch, man kann in sie hineingehen wie durch ein Fenster und dann tagelang einem einbeinigen Käpt’n dabei zusehen, wie er einen weißen Wal jagt. Das war natürlich Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Da werden Wale getötet! Unschuldige, vom Aussterben bedrohte Wale! Das Buch wurde sofort indiziert wegen Grausamkeit, Sadismus und Gefährdung der Jugend. Die Jugendlichen gründeten daraufhin die Käpt’n-Ahab-Partei. Als Kompromiss wurde das sogenannte Hörbuch eingeführt, damit die Kinder wenigstens noch eine Tätigkeit nebenher machen konnten, sei es Autofahren oder Chatten. Und man beschloss strenge Öffnungszeiten für die Bibliotheken, damit den Kindern auch noch Zeit für das Netz blieb, das sie mittlerweile völlig vernachlässigten. In ärmeren Stadtteilen übernahmen ältere Damen Surfpatenschaften, um die Kinder wenigstens einmal in der Woche ...
.... Da lagen meine Bücher endlich zur Abholung bereit.
24. JANUAR
Morgen habe ich Geburtstag. Eigentlich wollte ich wie im vergangenen Jahr abends das kleine Maxim-Kino mieten und zwei schöne Filme zeigen. Ich habe es dann aber gelassen, weil ich keine Rund-Mail schreiben konnte, sondern alle Freunde einzeln anrufen oder ihnen Postkarten hätte schicken müssen. Schade. Jetzt schau ich zum Fenster raus und tu mir selber leid, eine Tätigkeit, in der ich es in den vergangenen 40 Jahren zu einmaliger Meisterschaft gebracht habe.
Axel erzählt, was er gerade wieder Interessantes auf vimeo.com gesehen oder auf taz-online gelesen habe; unser Archivar Holthaus, der nichts von meinem Experiment weiß, sagt, ich müsse mir unbedingt die Website von diesem brillanten amerikanischen Professor ansehen; in der SZ lese ich eine kurze Zusammenfassung der Debatte, die anscheinend auf edge.org um »mein« Thema tobt, Ablenkung, Zerstreuung, Pulverisierung des Denkens. Wissenschaftler, Blogger, Professoren und Schriftsteller diskutieren darüber, inwieweit das Internet ihr Denken ändert; B. sagt, sie schaue schnell mal im Netz, wann die Züge gehen, und verschwindet dann für eine halbe Stunde in ihrer Mailbox. Als sie wiederkommt, sagt sie entschuldigend, ihre Freundin Anna habe ihr so etwas Schönes geschrieben; ich entdecke Thom Yorkes fantastisches Lied »Analyse« wieder und kann, die Lyrics dazu nicht googeln; ich schaue ins Kinoprogramm und kann nicht auf Artechock oder IMDB, um Kritiken zu den Filmen zu lesen; ich stelle fest, dass man sich für den Henri-Nannen-Preis nur noch online bewerben kann, und rufe in Hamburg an, um zu fragen, ob ich auch analog was schicken kann. Die Frau sagt: »Naja, in absoluten Ausnahmefällen geht das. Warum denn?« Ich erkläre ihr mein Experiment, sie lacht und sagt: »Okay, das ist echt ein bizarrer Ausnahmefall, schicken Sie mir das Anmeldeformular haptisch.« »Würde ich sofort machen, aber das Anmeldeformular bekommt man nur im Netz.«
In solchen Momenten komme ich mir vor wie in einer Art verdrehtem Höhlengleichnis. Plato vergleicht den Menschen, der die Ideen nur vom Hörensagen kennt, mit einem Mann, der gefesselt auf einem Stuhl sitzt. Hinter ihm brennt ein Feuer, dessen schwacher Schein auf die gegenüberliegende Wand strahlt. Nun werden hinter dem Rücken des Mannes Dinge vorbeigetragen, die zitternde Schatten auf
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