Ohne Netz
die Wand werfen. Eines Tages aber wird er sich befreien und ans gleißend helle Tageslicht treten, wo er im Sonnenlicht die Dinge selbst sieht, die Ideen.
Der analoge Alltag ist für mich in solchen Momenten wie die kleine, dunkle Höhle, in der für Plato der Mensch sitzt, bevor er durch das Denken und die Begriffe ans taghelle Licht der Vernunft und Freiheit gelangt. Ich bin auf meinem analogen Stuhl festgebunden, draußen in der Welt, im Januarspülicht. Drinnen im Netz hingegen brennt das ewige Licht der Wahrheit, dort werden die neuen Ideen verhandelt. Hier draußen bekomme ich nur schattenartig, verzerrt, abglanzartig entstellt mit, was alles aus dem leuchtenden Netz strahlt.
»Mensch Alex«, ruft Axel aus seinem Büro, »auf Becks Homepage kann man sehen, wie der mit anderen Musikern zusammen irgendwelche Lieblingsalben einspielt, das macht solchen Spaß.« Ich schaue ins blinde Schneetreiben raus, das die Welt zudeckt, alle Umrisse löscht, und zähle die Tage bis Ende Mai, wenn ich mich selbst befreien und zur Quelle des Lichts zurückkehren werde. Und ich frage mich, ob es hier draußen noch andere analoge Restgestalten wie mich gibt. Ich kann mit ihnen nicht in Kontakt treten, wir haben ja keine Mail-Adressen, keine Homepages und keine Profile, um aufeinander aufmerksam zu werden.
Ha, aber da! Die FAZ bringt in ihrer Güte ein paar der Edge-Beiträge über die Wirkmacht des Internets, einer davon ist von Nassim Taleb, dem Autor von »Der schwarze Schwan«, und der schreibt, dass er gerade dasselbe macht wie ich. Gut, der war nicht ganz so bescheuert wie ich, er hat nicht alles abgeschaltet, anscheinend geht er ab und zu ins Netz und schaut auch seine Mails an. Aber es klingt doch nach recht strengem Fasten. Ich muss dem Mann sofort ein paar Rauchzeichen aus meiner analogen Höhle übermitteln. Dann machen wir zusammen Musik und lesen einander Bücher vor. Aber wie komme ich an seine Adresse?
26. JANUAR
Ich rufe in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim, dem großen Münchner Gefängnis, an, um die Seelsorger zu fragen, ob sie ähnliche Klagen, wie Thomas Mohol sie mir gegenüber in Bernau vorbrachte, auch in ihren Gesprächen mit den Häftlingen zu hören bekommen. Eine Frau mit starkem Akzent hebt ab, sie rollt die Konsonanten so schwer, als hinge an jedem einzelnen R ein Klumpen lehmigfeuchter Erde. Nein, sagt sie, die osteuropäischen Häftlinge, mit denen sie ausschließlich zu tun habe, hätten andere Suchtprobleme, »Handys und Computer klauen die höchstens, um sie weiterzuverkaufen«. Sie fügt aber hinzu, ich solle unbedingt morgen wieder anrufen, da sei ihr Chef da, der kümmere sich um die deutschen Häftlinge, »und das ist auf jeden Fall ein Thema, auf jeden Fall, hören Sie?«
»Warum betonen Sie das so?«
»Weil die meisten Menschen nicht glauben, dass das eine ernstzunehmende Sucht ist. Mein Mann ... den haben seine Freunde im Urlaub um drei Uhr nachts angerufen: ˃Wo steckst du? Wir brauchen dich. Es ist Krieg.˂ Ich musste mich am Ende trennen, es ging nicht, wir haben Kinder. Aber wenn ich Freunden von dieser Sucht erzählt habe, dachten die immer nur, ach, die Regina spinnt. Dabei hab ich mit einem Zombie zusammengelebt. Er war nie wirklich da, solche Menschen sind nie wirklich anwesend. Saß in jeder freien Minute hinterm Computer und spielte ˃Civilization˂.«
Bei diesem Spiel muss man eine ganze Gesellschaft von Grund auf aufbauen. Man kümmert sich um alles, Infrastruktur, Umwelt, Ernährung, Wasserversorgung, Verkehr. Während Regina C.’s Mann im Netz also mit großer Umsicht und Sorgfalt für das Wohlergehen und Prosperieren einer ganzen Zivilisation sorgte, redete er jahrelang kaum ein Wort mit seinen eigenen Kindern und verkam dabei zusehends: Wusch sich nicht mehr, verwuchs mit seiner Kleidung, aß nur Junk und wurde fett. Ein eingeschalteter Paartherapeut sagte, er und seine Frau sollten eine halbe Stunde am Tag miteinander reden. »Ich hätte mit ihm über alles geredet,« sagt Regina, »über Flaschenöffner oder das Wetter in Rheinland-Pfalz. Hauptsache wir reden überhaupt mal miteinander. Ich wollte diese Ehe retten, ich war ja streng katholisch. Er sagte nur: ,Worüber soll ich mich denn unterhalten?˂ Auf all meine Fragen über sein Leben, über seine Vergangenheit, antwortete er immer nur: ’Weiß nicht. Vergessen.˂ Wenn wir Sex hatten, was eh nur ganz selten vorkam, war er wie eine Maschine, jetzt die Hand zur Schulter, jetzt die andere Hand auf die Brust.
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