Ohne Netz
Vorträge über die Weihen des digitalen Lebens, und wenn sie dann selber drinnen sind, schauen sie sich meist nur verängstigt um in den Räumen der Zukunft, drücken sich stumm am Rand herum und sagen danach, puh, schon ziemlich unheimlich alles.
4. APRIL, OSTERSONNTAG
Wir sind über die Feiertage auf dem Blaslhof, einem Bauernhof in der Nähe des Staffelsees. Die Kinder sind früh eingeschlafen, die frische Luft, die Tiere, das viele Rumrennen haben sie müde gemacht, B. und ich liegen im Bett und reden, das heißt, mir hängt mal wieder ein Tonband aus dem Mund mit der uralt vor sich hin leiernden Kassette, Schreibqualen, Schreibqualen, Schreibqualen. Während ich so vor mich hinjammere, will ich Miles Davis’ »Kind of Blue« auf iTunes rüberziehen. Der Rechner zeigt an, dass er für das Überspielen von »So What« fast eine Minute braucht. Ich rufe: »So lange?« und drücke nervös auf einigen Tasten herum, das kann doch gar nicht sein, für einen Titel. B. sagt: »Stundenlang bist du heute draußen rumgestanden und hast dich kein einziges Mal darüber beschwert, dass irgendwas zu langsam geht.«
Stimmt. Stundenlang. Bei den zotteligen Eseln Pedro und Mishima, die die Kinder mit fast schon religiöser Inbrunst gestriegelt haben. Am Rande des Spielplatzes. Bei den Pferden. Die Zeit verlief wie ein Eis in der Sonne, träg, konturlos, zähflüssig, und alles war gut. Und dann werde ich nervös, wenn mir mein Rechner sagt, dass er für irgendwelche niederen Knechtschaftsdienste 51 Sekunden braucht. Eine extreme Form der Gegenwartsschrumpfung ... Mit Internet war es noch schlimmer. Da gab es diese Nanosekundennervosität. Hochfahren, Programme starten, Mail mit großem Anhang schicken – kaum funktionierte irgendetwas nicht im allerersten Moment, dachte ich, was ist denn da jetzt wieder los, und hämmerte auf die Tastatur ein.
5. APRIL
Noch so ein Tag bei den Eseln, die gekämmt werden. Wie ich da so rumstehe und den stoischen Eseln beim Heufressen zuschaue, denke ich, wir sind das Gegenteil von Buridans Esel, diesem Esel, der zwischen zwei Heuhaufen steht, nicht weiß, von welchem er nun fressen soll, stunden- und tagelang hin- und herüberlegt, bis er am Ende verhungert. Wir stehen zwischen Hunderten von Haufen, kosten mal hier, mal da, würden am liebsten auf glutenfreies Heu umsteigen, nehmen weite Reisen auf uns, weil es irgendwo kasachisches Gras geben soll, und wollen am Ende ein Pferd werden, statt einem Esel.
8. APRIL
Ich bin anscheinend nicht alleine mit meinem Experiment. Mein Chef Thomas Steinfeld sagt, er habe auf »Slate« von einem amerikanischen Comicautor und irgendeinem Franzosen gelesen, die genau dasselbe machten wie ich. In England hat angeblich eine ganze Familie das Netz aus dem Haus verbannt. Und ein Dramaturg, der meine automatische Antwort-Mail bekommen hat, schickt den Ausdruck mir einer ganz ähnliche Autoreply-Mail, die er ein paar Tage zuvor von dem englischen Soziologen Richard Sennett erhalten hat. Sennetts Antwort erinnert mich an Hartmut Rosas Ratschlag, man solle einfach Temporalinsolvenz anmelden: »Die E-Mail funktioniert als Kommunikationsmittel nicht mehr für mich. Ich werde weiterhin meine eingehenden Mails durchschauen, aber kann nicht mehr versprechen, dass ich auf alle antworte. Schreiben Sie mir stattdessen an untenstehende Anschrift, und ich werde sicher antworten. Meine Adresse lautet ...« Außerdem habe ich kürzlich in der Zeitung gelesen, dass es professionelle Ausstiegshelfer gibt, die auf halbironischen Seiten ihre Dienste anbieten. Ausgestiegen.com bietet online sogar T-Shirts an. Ich sollte vielleicht auch T-Shirts verkaufen. Einen Offline-Shop aufmachen. Glücksseminare anbieten wie dieser Hirschhausen: Traut euch, geht spazieren! Sprecht eure Frau an, face to face statt Facebook. Sagt dem Himmel Guten Tag und den Sternen Gute Nacht.
10. APRIL
Der kleine Haselnussbaum, den ich eine Woche vor meinem Experiment gepflanzt habe, treibt erste Blätter. Unglaublich, der hat meine laienhafte Gartelei tatsächlich überlebt.
11. APRIL
Viele fragen, wie ich es so lange aushalte, so ganz ohne das Weltwissen des Netzes. Gern werden dann Anekdoten angefügt, was man gerade erst wieder Verrückt-Abseitiges gefunden habe auf irgendeiner speziellen Wissensseite, das sei ja so lustig respektive crazy. Um mal dagegenzuhalten, hier ein Packen ganz und gar abseitigen Wissens, alles soeben aus meinen analogen Tagebüchern von Indienreisen, Frankreichradtouren und
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