Ohne Netz
aus den ersten Vaterjahren zusammengesucht: Im nordindischen Darjeeling gibt es einen Wegweiser, auf dem »Hitler’s Telescope« steht. Im südindischen Chennai wurde 1998 innerhalb von 24 Stunden ein Dreistunden-Bollywood-Spektakel gefilmt; vier oder fünf Teams haben parallel gedreht, nach 23 Stunden und 50 Minuten war die letzte Szene im Kasten. Wenn man ein paar Kilometer hinter dem südfranzösischen Dorf Anduze, kurz vor dem ersten Cevennen-Anstieg, Rast macht, riecht es dort an einer ganz bestimmten Stelle, unter einer Kiefer, die sich so merkwürdig nach vorne beugt, als betrachte sie verwundert ihr eigenes Wurzelwerk, nach wildem Honig. Und wussten Sie schon, wie die Bäume entstanden sind? Hat mir mein Sohn mal erklärt, auf dem Weg zum Kindergarten, als im Herbst die Blätter fielen: »Weißt du Papa, als die Dinosaurier ausstarben, da mussten sie darüber so weinen, dass ihre Augen zu Tränen wurden. Und die Augen sahen aus wie Blätter und fielen auf den Boden, und daraus sind dann die Bäume entstanden.«
Ich habe einige der Tagebücher gestern zum ersten Mal seit ihrer Entstehung wieder durchgeblättert. Was für Schätze! Jean Paul schrieb mal, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Tagebücher sind der Humus für all unsere paradiesischen Erinnerungen.
Seit ich am Blackberry-Tropf hing, ist mein Tagebuchschreiben total eingegangen, nicht mal den Kinderalltag habe ich mehr mitstenografiert. Ich sage nicht, dass das für alle Menschen gilt, Axel beispielsweise schreibt täglich Tagebuch, seit 30 Jahren, er hat sich das ins digitale Zeitalter herübergerettet, bei mir aber fiel das eine mit dem anderen zusammen, totale Jetzigkeit und Amnesie in digitalis. Insofern: Nicht so schlimm, Leute, dass ich all die lustigen Sachen und Youtube-Videos nicht sehen kann. Ich schreib dafür endlich wieder Tagebuch. Zum Beispiel über den gestrigen Nachmittag:
Radfahren hat etwas unüberbietbar Vegetatives. Treten, atmen, kucken. Treten, atmen, rollen. Treten, atmen, treten: Stille Stammhirnfreuden. Der Geruch von nasser Erde, die weiche Luft, der Vogelgesang nach fünf Monaten Winterstille, dieser irrsinnig blaue Himmel, der hinter den Ästen wie der Goldgrund hinter Ikonenbildern glänzt, das tapfere Chlorophyll, das jedes Jahr ganz von vorn anfängt – all das wirkt, als würde man die Seele aus einem dunklen, muffigen Schrank holen.
Ich radle mit den Kindern zu meinen Eltern, unten an der Isar lang. Auf der Fahrt fragt S., ob sie mal wieder Maulwurf anschauen könne. Sie meint die Geschichten um den kleinen Maulwurf, tschechische Zeichentrickepisoden aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, die ich den Kindern manchmal auf Youtube gezeigt habe.
»Das geht leider nicht, ich kann momentan auf meinem Computer gar nichts anschauen, sondern nur Texte schreiben.«
»Warum denn?«
»Ich habe das Internet abgestellt und komme deshalb nicht an diese Filme ran.«
»Welches Internat?«
»Internet, nicht Internat. Internet. Da sind die Computer von ganz vielen Leuten miteinander verbunden, und diese Verbindung funktioniert wie ein riesiger Marktplatz, von dem man sich alles auf den eigenen Computer holen kann.«
»Gibt’s da auch Kleider?«
»Ja, man kann da sogar Kleider kaufen, aber vor allem kann man sehr viel anschauen, den Maulwurf zum Beispiel.«
»Kannst du mir da mal Kleider zeigen?«
»Ja, kann ich, aber erst wieder in ein paar Wochen, im Moment hab ich es abgeschaltet.«
N. schaltet sich ein: »Von meiner Klasse waren schon ein paar im Internet. Aber ich glaub denen das nicht, da hätten wir die doch beim Maulwurfkucken gesehen, wenn die da drin gewesen wären.« Ich hebe an zu erklären, metaphorisches Sprechen, nicht wahr, deine Klassenkameraden sind da nicht im physischen Sinne drin, aber N. sagt, noch bevor ich den ersten Satz vollenden kann: »Mann, Papa, war’n Witz.«
12. APRIL
Den gestrigen Tagebucheintrag sollte ich schleunigst wieder löschen, das klingt ja, als hätte ein verlogenes internationales Unternehmen, das analogen Alltag in kleinen, überteuerten Tüten verkauft, einen Werbespot gedreht, am Ende sieht man mich mit meinen für die harmonische Message missbrauchten Kindern aus dem Bild radeln, und eine ruhige Männerstimme sagt: »Geh offline, und dein Leben wird zum langen, ruhigen Fluss.«
Ja, es gibt schöne Momente. Gleichzeitig bringt der Musiker Fred Frith in einem meiner Lieblingslieder einen meiner Lieblingssachverhalte
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