Ohne Netz
Freunden, dass ich mich nach dem halben Jahr wahrscheinlich gar nicht mehr alleine auskennen werde im Netz, orientierungslos durch all die neuen Seiten irren würde und einen Zivi bräuchte für die digitale Resozialisierung. Schließlich folgt im Netz ein Umbruch auf den nächsten, nirgends kann man die von dem Philosophen Hermann Lübbe konstatierte »Gegenwartsschrumpfung« so gut, so drastisch beobachten wie in der Computerwelt. Wer Prognosen über das Netz machen möchte, kann sich eigentlich nur blamieren. Als der Hessische Rundfunk 1996 eine Sendung über das Internet ausstrahlte, kam ein Marketingexperte zu Wort, der sehr begeistert war von dieser technischen Neuerung, der aber auf die Frage, ob das Netz je zum »Massenmedium« avancieren könne, kategorisch sagte, das sei »ja schon aufgrund der technologischen Beschränkung unmöglich. Außerdem bekommt man dort kein richtiges Programm geboten, sondern muss sich seine Sachen mühsam zusammensuchen. Und es steht wenig Nützliches darin, was man für den Alltag brauchen könnte.« So kann man sich irren.
Lübbe meint mit dem Begriff der Gegenwartsschrumpfung die Beobachtung, dass der Zeitraum, für den eine Erfahrung oder Wahrheit gilt, in den vergangenen Jahrhunderten immer kürzer wurde. Da die Zahl der Erfindungen und Neuerungen permanent zunimmt, wird die Vergangenheit, auf die man zurückblicken kann als eine Zeit, die der unseren gleicht, immer kürzer. Machiavelli konnte, um über erfolgreiche Kriegsführung zu reden, noch den römischen Historiker Livius ins Feld führen, es hatte sich seit der Zeit der Römer technisch so wenig geändert, dass dessen Erkenntnisse über den Krieg in der Renaissance zu großen Teilen immer noch galten. Heute würde ein General, der Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg für Überlegungen eines eventuellen Angriffs auf den Iran zugrunde legen würde, diskret in den Ruhestand befördert. Vieles, was gerade mal 40 Jahre alt ist, starrt uns mittlerweile so fremd an wie Keilschriften, die 4000 Jahre unterm Wüstensand lagen: Als Ingenieure der NASA Mitte der Neunzigerjahre nachschauen wollten, wie ihre Vorgänger in den Sechzigern die ersten Raketen programmiert hatten, mussten sie feststellen, dass die mehr als 1,2 Millionen Magnetbänder aus 30 Jahren Raumfahrt, insbesondere all die Bänder der Pioniersonden und frühen Mondmissionen, nicht mehr lesbar sind. Zum Teil lag das an schlechten Lagerungsbedingungen, vor allem aber gab es keine Magnetbandgeräte mehr mit einer entsprechend niedrigen Schreibdichte.
Das ist schon beeindruckend: Sie haben damals mit dieser Technik die Voyager-Sonde losgeschickt, in der ein Potpourri unserer Kulturgeschichte und unseres Lebens hier auf Erden liegen, Leonardos Mensch, über hundert Musiktitel, Diagramme von befruchteten Eizellen, Krokodilfotos, ein Klassenzimmer, chinesisches Abendessen, Sonnenuntergang ... All das soll gelesen und verständig interpretiert werden von fremden Wesen, die, so es sie denn gibt, in Millionen Lichtjahren Entfernung leben und deren kulturelle Codes sich von den unseren doch hier und da unterscheiden dürften. Wir selbst aber sind nicht in der Lage, 40 Jahre nach dem Start dieser Sonde deren von Menschen erdachten Quellcode zu entziffern.
Die Gegenwart schrumpft in Lübbes Beobachtung aber nicht nur von der Vergangenheit her: Aufgrund der Innovationsverdichtung und der damit einhergehenden Veraltensgeschwindigkeit gilt das Bestehende auch für immer kürzer werdende Zukunftsräume. Wer heute sein Leben zehn Jahre im Voraus entwirft, braucht dringend lebenstechnischen Nachhilfeunterricht; die Berufe, in denen die heutigen Studierenden einst arbeiten werden, sind noch nicht mal erfunden, wenn sie ihren Bachelor machen.
Viele Menschen reagieren auf diese Beschleunigung verständlicherweise mit Angst. Man kann das beim Kulturkampf zwischen sogenannten Digital Natives und Digital Immigrants beobachten. Die einen, die ja im Grunde nur ein wenig früher den Einschaltknopf gefunden haben, führen sich oftmals auf wie präpotente Türsteher, die qua Geburtsrecht darüber zu entscheiden haben, wer rein darf ins Netz und wer nicht. Oder wie Hohepriester, die über ein vermeintliches Arkanwissen verfügen, das zu komplex und heilig ist für das einfache Volk. Die anderen merken wie im wirklichen Leben so auch hier nicht, dass die allermeisten Hohepriester Scharlatane und Pharisäer sind, stehen brav draußen Schlange, zahlen mediokren Bloggern Unsummen für lächerliche
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