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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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    Kaum ist das Sitzen um, gegen vier Uhr nachmittags, wird das Schlucken wieder zum unauffälligen Hintergrundreflex.
    24. MÄRZ
    Die Grundschule unseres Sohnes teilt sich das Gebäude mit einer Berufsschule für Erzieherinnen. Während ich nach der Schule auf N. warte, kommen 30 bis 40 etwa 18-jährige Schülerinnen aus dem Gebäude. Bis auf drei haben alle ein Handy, einen iPod oder ein anderes Gerät in der Hand. Jaja, ich weiß, schwere Zeit, Postpubertät, Hormontsunami, Gruppenzwang. Aber das ist schon grotesk, wie sie alle aus der Tür rauskommen, mit dem Blick aufs Display, als würde jede von ihnen auf Anweisungen aus irgendeiner Zentrale warten. Die Szene ist so beeindruckend, dass ich am Nachmittag einen Rundbrief an alle Münchner Gymnasien und Realschulen schreibe, in dem ich sowohl die Lehrer als auch die Schüler frage, welche Auswirkungen ihrer Meinung nach das Internet auf das Konzentrationsvermögen und Lernverhalten hat. Ob das tatsächlich derart epochale Veränderungen mit sich bringe, wie viele vermuten. Und ob sie mit der Metapher von der Abhängigkeit etwas anfangen können.
    25. MÄRZ
    Ich habe gestern mein Zimmer bei Axel aufgeräumt und bin dabei auch durch all die Textstapel an Untersuchungen, Artikeln und Büchern gegangen, die ich irgendwann im Januar kurzerhand vom Tisch geräumt hatte. Was für ein Wust. Dieser ganze Haufen ist das physische Pendant zu dem bescheuerten digitalen Horten und Raffen, Jagen und Sammeln, zu all den endlosen Nachrichtenfeeds, Mails, Songs, Videos, die ich normalerweise durch mich durchlaufen lasse.
    Was passiert eigentlich mit all den Songs, die wir runterladen, ohne sie je anzuhören? All den Filmen, die wir aufnehmen? Schauen sich die Geräte nachts, während wir digitalen Messies unsere antiquierten Körper auf Stand-by stellen, für uns diese Materialmassen an und tauschen sich danach über uns aus? Bei meinem digitalen Fotoalbum bin ich mir fast sicher, dass es so ist: Wenn ich ein paar Minuten nichts schreibe, fängt mein Rechner an, Fotos aus meinem digitalen Album über den Bildschirm zu schieben. Der hat über die Zeit eindeutig merkwürdige Vorlieben entwickelt, warum sonst würde er immer und immer wieder diese unterbelichtete Serie zeigen, Bilder aus unserer Wohnung, in bizarren Ausschnitten, aufgenommen von einem ungefähr 110 Zentimeter großen Wesen, das sich anscheinend besonders für unscharfe Zwerghasen, Taschen in dunklen Zimmerecken und Kinderfüße in Socken mit Loch am großen Zeh interessiert?
    30. MÄRZ
    Der vierte Monat ist fast um, zwei Drittel sind vorbei, morgen geht’s zurück in die Zeitung. Vielleicht ist es nicht so sehr die internetfreie Zeit, als viel mehr die insgesamt freie Zeit, die gut tut. Die Monate zu Hause. Die mit B. und den Kindern vertrödelte Zeit. Und das ruhig getaktete, tägliche Gebossel an diesem Tagebuch: Als nage man an einem brontosaurieroberschenkelgroßen Knochen herum.
    Ein paarmal verspürte ich an den letzten Abenden, nach einem Tag des Schreibens und Lesens, auf dem Heimweg überrascht ein stilles Glücksgefühl. Naja, Glücksgefühl klingt nach Jubel und Ekstase, das wäre zu viel, zu laut, eher war es ein Gefühl der Stille: als würde ich durch den freundlich moderaten Feierabendtrubel unseres Viertels eine unsichtbare Schale klaren Wassers tragen. Als würden sich die Tage wieder anders mit Zeit voll saugen. Aber auch das dürfte eher mit der rundum selbstbestimmten Zeit zu tun haben als nur mit dem digitalen Fasten. Ohne das Fasten freilich hätte die Zeit wahrscheinlich längst nicht diese Qualität.
    31. MÄRZ
    Da Holger heute seinen letzten Tag in der Redaktion hat, gehen wir noch mal alle gemeinsam essen. Ich entdecke ganz hinten in der Kantine einen Tisch, auf dem ein Reserviert-Schild steht. Auf dem Tisch liegt eine schwarze Decke. Die passt zum Anlass. Bevor Holger kommt, frage ich schnell und leise an den umliegenden Tischen, ob mir jemand einen Stift leihen kann, ich will das Reserviert-Schild übermalen mit Holgers Namen. Ich habe ungefähr 30 Leute gefragt. Keine Straßenarbeiter oder Fährtenleser, die von drauß' vom Walde beziehungsweise von drauß’ vom Autobahnkreuz kamen, sondern ausnahmslos Menschen, die den ganzen Tag im Büro sitzen. Die Hälfte von ihnen lebt vom Schreiben, die anderen waren aus der Verwaltung. Ich behaupte mal, vor zehn Jahren hätten die meisten von denen einen Stift in der Jacke gehabt. Jetzt kein Einziger. Es wurde schon oft darauf

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