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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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wollten sie sagen, Mann, echt grauenhaft, dieses dauernde Gepiepse, aber siehst ja selber, ich muss einfach kurz mal ... Mir doch egal. Macht doch alle, was ihr wollt! Bin ich hier etwa so was wie der analoge Priester, bei dem alle ihre digitalen Sünden abladen?
    16. APRIL
    Ich frage mich mittlerweile, wie ältere Menschen, die kein Netz haben, ihre Alltagsorganisation überhaupt noch hinbekommen. Tun sie wahrscheinlich gar nicht: Da ja die analoge Welt mehr und mehr im Netz versickert, schaffen sich viele, die noch vor wenigen Jahren dachten, das brauch ich auf meine alten Tage wirklich nicht mehr, doch noch einen Internetzugang an. So auch meine Eltern. Die hatten immer schon Probleme, unsere Stereoanlage oder den Videorekorder in Gang zu setzen und sind den Tücken des Computers nun wehrlos ausgeliefert. Kaum bewegt man den Cursor irgendwohin, verschwindet wieder was vom Bildschirm. Und wo muss man diese Freenet-Adresse noch mal reinschreiben? Heute rief meine Mutter ganz zerknirscht an. Mein Bruder hatte ihr eine Mail mit einem Anhang geschickt, irgendetwas war beim Öffnen schiefgegangen, jetzt sagte sie im Ton eines schweren Geständnisses: »Alex, mir ist was ganz Blödes passiert, ich glaube, ich habe gerade das Internet gelöscht.«
    Meine Mutter war immer schon eine starke Frau. Das aber hätte ich ihr nicht zugetraut. Das Internet gelöscht, mit einem Knopfdruck! Was würde wohl in diesem Fall passieren? Einen ganz zarten Vorgeschmack für den dann ausbrechenden kollektiven Wahnsinn gab es am 21. April 2009. Der Tag hätte ein Fest der Freiheit werden können; ein Tag der Stille und inneren Sammlung; ja, ein nationaler Tag des autonomen Ichs! An besagtem Tag hat ein heldenhafter Telekom-Angestellter das Dauergeschnatter auf allen Kanälen nicht mehr ausgehalten und einfach mal für radikale Ruhe gesorgt, indem er für fünf Stunden das System heruntergefahren hat (angeblich aus Versehen). Für 29 Millionen Telekom-Kunden ging an diesem Tag ein fünf Stunden großes Zeitfenster auf, durch das man auf nichts als auf Stille und Muße hätte blicken können. Stattdessen hackten alle wie besinnungslos auf ihre Handys ein und deckten dann umgehend das Unternehmen mit Beschwerde-Mails ein. Ein Empörungstsunami rollte übers Land, Unternehmer verklagten die Telekom, weil sie wichtige Geschäftspartner nicht erreicht hatten, aufgelöst jammerten Menschen in eilends zusammengeschusterten Sondersendungen, sie fühlten sich wie amputiert.
    Nun also das gesamte Internet. Arme Mami. Die bräuchte Polizeischutz. Nur dass es leider keine funktionsfähige Polizei mehr gäbe, die koordiniert mittlerweile schließlich auch alles übers Netz. Es wäre wahrscheinlich, als würde man dem Globus die spinalen Nervenleitungen durchschneiden, ein paar spastische Gigazuckungen, Aktien- und Finanzmärkte binnen Minuten in Trümmern, Flugzeuge fallen vom Himmel, Kontinente taumeln, der Mensch verschwindet im Holozän und die »Bild«-Zeitung titelt in ihrer letzten Ausgabe: »Frau Rühle, was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
    17. APRIL
    Dass ich kein Handy habe, ist am einfachsten zu verkraften. Momentan schau ich immer, dass ich Kleingeld dabei habe, falls ich mal telefonieren muss. An einer Zelle am Sendlinger Tor klebte gestern ein wunderbar rätselhaftes Post-it: »Käse, Leinsamen, Obst (keine Birnen). Sex: Wenn der Mensch keinen hätte, wäre Schluss (Erich fragen!)« Dahinter stand noch eine Zahlenkombination, wahrscheinlich eine Telefonnummer. Vielleicht sollte man die anrufen. Solcherart glänzen die Alltagsrätsel im Leben einer analogen Existenz.
    20. APRIL
    Ich frage mich gerade, ob ich Musik mittlerweile anders höre, sozusagen von innen. Als sei ich während des Hörens in einem Gebäude unterwegs, die Ohren sind die Hände, die mich durch die gewundenen Gänge vorantasten lassen.
    Kaum habe ich die beiden Sätze hingeschrieben, fühlen sie sich dermaßen falsch und riesig an, als hätte ich Schuhe der Größe 56 angezogen. Ich Pathos-Clown. Wahrscheinlich kommt es daher, dass ich gerade den Eingangschor der Matthäus-Passion höre und zum ersten Mal wahrnehme, was die Kontrabässe da machen: Das ist ja verrückt, wie die 41-mal ein und denselben Ton spielen, leise und stetig und stark, wie der Herzschlag eines Blauwals, 15 Meter unter der Wasseroberfläche. Erst als ich Tränen in den Augen habe und alles verschwimmt, merke ich, dass ich die ganze Zeit während des Hörens auf meine Fensterbank starre; auf der ein

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