Ohne Netz
kleines grünes Aufziehflugzeug stehen, eine Kachel, die meine Großmutter bemalt hat, und eine Cézanne-Postkarte, in deren Zentrum stolz und lila-grau die Sainte-Victoire thront, der Berg, den Cézanne über 60-mal gemalt hat in seinem Leben. Cézanne, der auf die Frage nach seinem künstlerischen Credo sagte: »In sich alle Stimmen der Voreingenommenheit verstummen lassen, vergessen, vergessen, Stille machen, vollkommenes Echo sein.« Den Satz würde ich mir gerne ausschneiden und riesengroß über mein Experiment hängen. Von dort her würde er streng und grimmig auf mein momentanes Gerede herunterschauen.
Cézanne hätte sicher nie gesagt, dass er sich einbildet, Bilder wieder anders zu sehen, sozusagen von innen, das sind faule Formeln, die er kurzerhand in der Luft zerrissen hätte wie die Bilder, mit denen er unzufrieden war: In seinem Atelier in Aix-en-Provence lehnen zwei grünbraune Leinwandfetzen an der Wand, Reste eines Bildes, das ihm unvollkommen schien, weshalb er es kurzerhand aus dem Fenster in den Garten warf, wo die Teile tagelang im Regen herumlagen.
»Ich habe Ihnen nur wenig zu sagen«, knurrte er den Maler Charles Camoin einmal an, als der ihn nach seinem Geheimnis fragte, »man spricht besser über die Malerei, wenn man sich vor dem Motiv befindet, als wenn man sich in spekulativen Theorien ergeht, in denen man sich oft verirrt.« Also Schnauze jetzt, Musik aus und zurück vors Motiv, Wale, wie sollen denn Wale in die Matthäus-Passion kommen.
21. APRIL
Immer wieder Suchtgeständnisse. Wobei man bei einem echten Geständnis ja meist zerknirscht ist, verzweifelt über das, was man getan hat. Die Leute erzählen mir, sobald sie von meinem Experiment erfahren, eher amüsiert von ihrer jeweiligen Zwangsmacke: Die Bekannte, die täglich bei Ebay auf Schnäppchenjagd geht, obwohl sie gar nichts dringend braucht. Der Arbeitskollege, der gerade ein Buch geschrieben hat und jetzt zwanghaft sein Amazon-Ranking kontrolliert. Der Bekannte, der sagt, er habe in den vergangenen vier Jahren 3600 Stunden in dem sozialen Netzwerk Gayromeo verbracht. »Wow«, sage ich, »das sind 900 Stunden im Jahr, also zweieinhalb Stunden am Tag.« Er stutzt: »Moment, nein, das kann nicht sein ... Hmm, vielleicht hast du recht.«
Wie gesagt – all das wird belustigt berichtet, klar ein zeitaufwendiger Spleen, aber das Leben wird davon nicht generell eingetrübt, und es macht ja auch Spaß. Gar nicht zu vergleichen damit sind die Erzählungen von »World of Watcraft« -Opfern. Von Florian zum Beispiel, der in Wirklichkeit anders heißt, ein Informatiker um die 30, der sich mit mir im Café Gap trifft und erzählt, dass er vier Jahre lang 24 Stunden am Stück an nichts anderes dachte als an dieses Spiel. »Auf dem Heimweg von der Arbeit habe ich die nötigen Verrichtungen zu Hause wie eine Choreographie durchgeplant, damit ich möglichst schnell am Rechner sitze, es ging mir um Sekunden. Haustür auf, Schuhe aus, Brot schmieren, aufs Klo – kommt ganz schlecht, wenn du während des Spiels plötzlich musst – und dann endlich, endlich wieder rein ins Spiel, den ganzen Abend. Ich hatte nie das Gefühl, zu viel zu spielen, sondern immer nur zu wenig.« Er hat vier Jahre lang gespielt und es dann, nach zwei vergeblichen Versuchen, geschafft, auszusteigen. »Ich war nonstop nicht bei mir, sondern in der virtuellen Welt, selbst beim Wandern in den Bergen habe ich permanent an die Gilde gedacht. Das wollte ich irgendwann nicht mehr.«
Auch zwei Jahre nach dem Ausstieg sagt er, es falle ihm schwer, für irgendetwas wirklich Interesse aufzubringen. »Früher, vor meiner »World of Warcraft«-Zeit, hatte ich das, was man Hobbys nennt: Hab viel gebastelt und gelötet, Tischtennis gespielt oder Fußball. Während der Jahre des Spielens war nicht daran zu denken, das wäre absurde Zeitverschwendung gewesen. Aber auch heute, zwei Jahre nach dem Aufhören, kommt mir das alles fahl vor. Hab’s versucht, aber ich bin nicht mehr darin versunken wie früher, das macht nicht mehr denselben Spaß. Es ist alles wie ausgebleicht.«
Ich hatte Florians Nummer von Hirtes bekommen, einem Münchner Ehepaar, das eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen hat, weil es seinen eigenen Sohn verloren hatte. So drücken sie es selber aus. Der Junge war ganz und gar in dem Spiel verschwunden. Sie hatten drei Jahre keinerlei Kontakt zu ihm. Er war gerade als Student nach Norddeutschland gegangen und bekam einen Job angeboten, als Beta-Tester für
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