Ohnmachtspiele
wirke. Nein, getrunken nicht, aber die vergangene Nacht hätte ihn schon etwas mitgenommen, falls sie noch nicht davon gehört hätte. Natürlich, es täte ihr auch leid, dass sie sich noch nicht gemeldet hätte, aber der Stress zurzeit. Schäfer hatte keine Lust auf diese Diskussion. Er küsste sie flüchtig und verließ das Büro.
Wieder im Freien, bestand Schäfer darauf, zu Fuß zum Magistrat zu gehen. Das wären drei Kilometer, meinte Bergmann und schüttelte den Kopf. Frische Luft, Bewegung, das würde ihnen guttun und das Denken anregen, insistierte Schäfer. Seufzend knöpfte Bergmann den untersten und die obersten beiden Knöpfe seiner Jacke zu. Schäfer sah ihm dabei zu und wurde von einer kindlichen Rührung erfasst. Es war kalt, windig – doch seinem Assistenten war es nur wichtig, schnell zu seiner Dienstwaffe zu kommen. Er riskierte eine Erkältung, nur um Schäfer zu beschützen. Wie rührend, Bergmann, wie rührend. Was war denn das jetzt wieder für eine Regung? Offenbar verdrängte das Medikament seine Ängste und räumte das Feld für andere Emotionen. Eine schöne Vorstellung, so ein Mittel auch für sein berufliches Umfeld zu besitzen: Innenminister und Konsorten aus dem Weg räumen und schon ist Platz für das Edle und Hilfreiche des Polizistentums.
„Habe ich Ihnen eigentlich in letzter Zeit mal gesagt, was für ein ausgezeichneter Polizist Sie sind?“
„Ich glaube nicht.“ Bergmann drückte die Glastür des Magistratsgebäudes auf. „Aber danke.“
„Ich meine das ernst.“ Schäfer trottete hinter ihm her, als ob sie in einem Supermarkt wären und Bergmann seine genervte Mutter. „In Ihrer Gegenwart fühle ich mich sicher. Behütet, richtig gut.“
„Das freut mich.“ Bergmann sah auf die Infotafel und ging zum Lift, der sie in den dritten Stock brachte.
Wo die Chlapecs in Wien gewohnt hatten, erfuhren sie umgehend. Auch der Name des Adoptivsohns schien im Register auf: Er hieß Florian und war 1972 erstmals an der Wohnadresse der Chlapecs im dreizehnten Bezirk gemeldet worden. Offenbar hatte er Wien nach dem Tod seiner Mutter verlassen – es gab zwar drei Personen mit demselben Namen und einer Wiener Wohnadresse, doch zwei von ihnen waren über sechzig und der dritte noch keine dreißig. Mit der Herkunft des Jungen und seinen leiblichen Eltern konnte ihnen der Beamte nicht weiterhelfen. Die Adoptionsunterlagen aus der damaligen Zeit waren noch nicht digital erfasst und damit auch nicht zentral verfügbar. Sie sollten es im zuständigen Amt der Jugendwohlfahrt versuchen, das sich nur zwei Straßen weiter befand. Auf dem Weg dorthin mischte sich unter Schäfers flauschige Benommenheit eine angespannte Erregung. Er kannte den Vornamen, er wusste, wo Chlapec gewohnt hatte – er rückte ihm näher.
Und blieb gleich wieder stehen: Die zuständige Beamtin bei der Jugendwohlfahrt konnte nichts über einen Florian Chlapec oder eine entsprechende Adoption finden. Es gab einen Ordner im Archiv, doch die Dokumente fehlten. Wer diese Unterlagen an sich genommen haben könnte? Das sei kaum festzustellen. Zwar müsse sich jeder eintragen, der Einsicht in die Akten nehmen wolle; doch zum einen wären sie mit dem gesamten Archiv bereits zweimal umgezogen, und zum anderen unterlägen die Akten keinen besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Wer ein bestimmtes Dokument aus dieser Zeit unbedingt beseitigen wolle, dem gelänge das auch. Am besten wäre es, sich an die Schule zu wenden, die Chlapec besucht hatte. Dort gäbe es Jahresberichte mit Fotos und ziemlich sicher ließe sich auch ein Lehrer finden, der den Jungen noch in Erinnerung hatte. Pro forma ließen sie sich Kopien der Anmeldelisten der letzten zwei Jahre geben und verabschiedeten sich.
„Wir haben ihn“, meinte Bergmann, als sie auf der Straße standen, „oder?“
„Ja und nein“, erwiderte Schäfer, „gehen wir ins Büro und telefonieren die Schulen durch.“
34
Zurück auf dem Kommissariat, trafen sie auf dem Gang Bruckner, der Schäfer nach einem kurzen Gespräch über den Tagesverlauf in sein Büro bat.
„Wie geht’s deinen Mädels?“, fragte Schäfer, wohl wissend, dass Bruckner nach dem Vorfall vom vorigen Abend unter keinen Umständen zu Hause geblieben wäre.
„Schon besser. Und dir?“
„Alles in Ordnung. Unkraut vergeht nicht.“
„Hoffen wir’s“, meinte Bruckner, klopfte zweimal auf die Tischplatte und reichte Schäfer drei zusammengeheftete Zettel. „Das hat der Schreyer vor einer Stunde
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