Ohnmachtspiele
Möglichkeit gab, die Wohnung zu verlassen. Er ließ den Lift kommen, entschied sich dann aber doch für die Stiegen. Einer der beiden Polizisten stand neben dem Auto und rauchte. Ob etwas nicht in Ordnung wäre, fragte er besorgt. Alles bestens, sie sollten ihn nur zum Bisamberg bringen.
Holzleitners Anblick überraschte ihn. Der ehemalige Schulwart trug eine Knickerbocker aus Wildleder, eine dicke Strickjacke und Holzpantoffeln. Zudem war sein halbes Gesicht von einem wild wuchernden weißen Bart verdeckt, während sein Kopf kahlgeschoren war. Er quetschte Schäfers Hand und ließ ihn eintreten. Ein rascher Blick durch die bescheidene kleine Wohnung ließ in Schäfer umgehend ein ungefähres Bild von Holzleitners Leben entstehen: wahrscheinlich ein gelernter Handwerker – Elektriker, Installateur oder Mechaniker –, der sich irgendwann entschieden hatte, den beschaulichen Beruf des Schulwarts trotz eines relativ geringen Einkommens einem Vollzeitjob in einer Werkstatt vorzuziehen, um sich auf seine wahren Leidenschaften konzentrieren zu können. In Holzleitners Fall war diese offensichtlich das Sammeln – wobei Schäfer nicht ausmachen konnte, worauf es sich konzentrierte. Von alten verstaubten Folianten über große Stücke grauen Schwemmholzes bis hin zu bayerischen Bierkrügen war das Haus, das nicht mehr Fläche besaß als Schäfers Wohnung, so vollgeräumt, dass sich bis auf eine Eckbank in der Küche und einen Fernsehstuhl im Wohnzimmer keine Sitzgelegenheit fand. Ungemütlich fand es Schäfer dennoch nicht. Auf Holzleitners Aufforderung hin setzte er sich hinter den Küchentisch, auf dem zwei Stapel alter Jahresberichte lagen.
„Schauen Sie ruhig schon hinein.“ Holzleitner hatte die Gedanken seines Gastes erraten. Er nahm zwei Tontassen aus der Anrichte, goss Tee hinein und stellte sie auf den Tisch.
„Wann soll das gewesen sein?“ Holzleitner zog einen der Stapel näher zu sich heran.
„Anfang der Achtziger … aber wahrscheinlich war er nur kurz dort …“
Schweigsam blätterten sie vor sich hin, bis Holzleitner Schäfer eines der Bücher aufgeschlagen hinhielt.
„Der da“, meinte er und klopfte mit dem rechten Zeigefinger auf ein Klassenfoto.
Schäfer nahm das Buch und sah sich den Jungen genau an. Das Bild war schwarzweiß und in mäßiger Qualität, der Kopf von Florian Chlapec nicht größer als ein Fingernagel – dennoch bekam Schäfer Herzklopfen. Er versuchte sich den Jungen dreißig Jahre älter vorzustellen. War das ein Gesicht, das ihm schon einmal untergekommen war? Die dichten dunklen Haare, die schmalen Augen …
„Erinnern Sie sich an ihn?“
„Ja“, sagte Holzleitner selbstsicher, griff sich das Buch und schlug eine der hintersten Seiten auf, wo er ein alphabetisches Verzeichnis der Schüler durchging. „Jahrgang achtundsechzig, geboren in Murau … das weiß ich noch, dass er aus der Steiermark gekommen ist. Hat irgendwas mit seiner Mutter gegeben, über den Vater weiß ich gar nichts. Der Florian …“ Holzleitner blätterte zurück zum Klassenfoto. „Der war kein glücklicher Bub … nach zwei Jahren haben ihn seine Eltern von der Schule genommen … die sind irgendwo ins Ausland …“
„Mit wem war er befreundet?“
„Da fragen Sie mich jetzt zu viel“, erwiderte Holzleitner, legte das Buch weg und nahm seine Teetasse, „die meiste Zeit habe ich ihn allein gesehen.“
Als Schäfer Holzleitners Haus verließ, war es kurz nach vier. Die beiden Beamten, die ihn hergebracht hatten, saßen im Wagen und kämpften offensichtlich gegen den Schlaf an. Auf der Fahrt zu Schäfers Wohnung brachte keiner ein Wort heraus. Er bedankte sich bei seinen Beschützern und stieg die Treppen hinauf. Nachdem er sich einen Kaffee gemacht und zwei Scheiben hartes Brot mit Butter und Marmelade bestrichen hatte, setzte er sich an den Küchentisch. Murau, dort mussten auf jeden Fall Unterlagen über Florian Chlapec zu finden sein – eine Adoption ist schließlich kein Kauf einer Waschmaschine. Wobei er allerdings auch davon ausgegangen war, in Wien etwas zu finden. Die Unterlagen mochten verloren gegangen sein; oder Chlapec hatte sie verschwinden lassen; hatte vielleicht sogar seinen Namen geändert. Aber irgendwelche Spuren hinterlässt jeder im Lauf seines Lebens. Bruckner würde sich um den Range Rover kümmern; der Rest der Gruppe um die Mechaniker und die Bekannten der toten Fixerin. Eigentlich kämen sie auch ganz gut ohne ihn aus, sagte er sich. Ein, zwei Tage wäre er
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