Ohnmachtspiele
Spalier Polizisten in Offiziersuniformen und mit geschulterten Gewehren den Umzug ab, an dessen Spitze Schäfer jetzt einen Reiter in einem Umhang aus schwerem Loden sah, da hörte er das Lied und wusste augenblicklich, wer der Mann auf dem schwarzen Pferd war: der Heilige Martin, der bald seinen Mantel mit dem Schwert teilen würde, um die eine Hälfte einem Bettler zu geben, ihm zu Ehren die Prozession, ich gehe mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir, dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir, ein Stich in seiner Brust, ein Riss, eine mächtige Emotion brach aus, überschwemmte ihn, er konnte sie nicht benennen, Heimweh, Trauer, irgendwie auch Liebe, er schluchzte auf, erwachte, nein, nein, der Damm durfte sich nicht schließen, er wollte doch weinen, dem Schmerz seinen Lauf lassen, ihn ausschwemmen mit den Tränen, die sich nun weigerten zu fließen, er stand auf und taumelte ins Bad, stützte sich mit beiden Händen gegen den Spiegel und sah sich ins Gesicht. Ich drehe durch, murmelte er, jetzt drehe ich völlig durch, er ging ins Wohnzimmer und nahm sein Telefon.
„Entschuldigen Sie den späten Anruf, Herr Breuer, aber ich brauche Ihre Hilfe … Danke … Ja, ich denke, ich habe gerade so eine Art Angstanfall und bin … Schon, aber das letzte Mal, das ist schon ein paar Wochen her und … Wahrscheinlich, weil mich jemand erschießen wollte … Weiß ich nicht … Ja, ich stehe unter Polizeischutz, aber das hilft mir jetzt nichts … Ich muss schlafen … Könnten Sie mir ein Rezept ausstellen für ein Beruhigungsmittel … Das reicht mir völlig, ist nur, damit ich vorübergehend … Ich kann ein Taxi schicken … Vielen Dank … Keine Sorge, ich nehme das ernst … Danke … Ihnen auch.“
Er beendete das Gespräch und rief ein Taxi an, schickte es zur Wohnadresse des Psychiaters, wo der Fahrer ein Ärztemuster eines Beruhigungsmittels abholen und den Beamten vor seinem Haus übergeben sollte.
Eine halbe Stunde später läutete es an der Tür. Schäfer öffnete und nahm das kleine Papiersäckchen entgegen. Ob sie einen Kaffee wollten, fragte er den Beamten. Der lehnte dankend ab und meinte grinsend, dass sie dann ja nicht mehr schlafen könnten. Am Kühlschrank lehnend las Schäfer den Beipackzettel durch, der fast bis auf den Boden reichte. Dann drückte er zwei Tabletten aus der Blisterpackung, warf sie in den Mund und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Er setze sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Surfte durch die Programme, bis er etwas in Schwarzweiß fand. Irgendwann begann der Ton sich von den Bildern zu lösen, Schäfer fühlte sich wie kurz vor einer Vollnarkose, er fiel zur Seite und in einen traumlosen Schlaf.
Um sieben Uhr weckte ihn die Türglocke. Schäfer öffnete und ließ Bergmann herein, der offensichtlich wenig bis gar nicht geschlafen hatte.
„Machen wir uns erst einmal einen Lazarus-Kaffee.“ Schäfer wankte in die Küche und holte zwei Tassen aus der Anrichte.
„Ich glaub das einfach nicht“, meinte Bergmann kopfschüttelnd und setzte sich an den Tisch.
„Was? Mir … oder das Ganze?“
„Dass der Sie aussucht … der muss den Verstand verloren haben …“
„Ja … aber nicht erst gestern … nur jetzt haut es denen offensichtlich alle Sicherungen heraus …“
„Wie gehen wir weiter vor?“
Schäfer stellte zwei volle Kaffeetassen auf den Tisch, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Er erzählte Bergmann, was er von Koller über das Ehepaar Chlapec erfahren hatte. Dass er an einen Zusammenhang glaubte.
„Und wo genau soll der bestehen?“
„Der Adoptivsohn. Wenn er mit seinen Eltern in Osteuropa unterwegs war, ist ihm das Tschechische zumindest vertraut. Und dieses Entwurzelte: zuerst adoptiert, dann mit den fremden Eltern von Land zu Land, das würde perfekt in das Schema einer Fremdbestimmung passen, eine Figur, die keinen Einfluss darauf nehmen kann, was mit ihr passiert … es gibt keinen konkreten Hinweis, aber es könnte genau so sein …“
„Und er fängt ausgerechnet mit seiner Adoptivmutter an? Weil er feststellt, dass sein Name auf Deutsch Junge heißt … das passt mir irgendwie nicht zusammen … außerdem: Wer ist der Zweite? Wenn der Sohn ein Alibi hat, muss der andere dafür verantwortlich sein …“
„Richtig … vielleicht war dieser erste Mord auch noch nicht Teil dieses Schemas … möglicherweise haben sie die Frau nur umgebracht, damit der Sohn schneller an sein Erbe kommt … und
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