Ohnmachtspiele
Freitagmorgen berief Kamp eine außerordentliche Besprechung ein. Wie es aussah, hatte die Boulevardpresse im Gegensatz zur Polizei genügend Personal zur Verfügung, um die Hintergründe des Tschetschenenmordes ordentlich recherchieren und den Ermittlern eine neue Richtung aufzeigen zu können. Auf den Titelseiten war von russischen Geschäftsleuten mit besten Kontakten zur Wiener Politik und Wirtschaft die Rede. Ein gefundenes Fressen: Ob man deren Machenschaften nicht schon viel früher hätte aufdecken können? Ob man das Ansuchen der Tschetschenen um Personenschutz nicht ernst genommen hatte? Ob es politische Interventionen gäbe, um die Aufklärung zu verhindern? Die Verhandlungen eines österreichischen Energieanbieters mit einem russischen Gaskonzern, dessen Eigentümern eine bedenkliche Nähe zum organisierten Verbrechen nachgesagt wurde: würden sie die Ermittlungen behindern? Kurzum: die Medien setzten den Minister und die verantwortlichen Behörden gehörig unter Druck. Warum sich die Boulevardpresse so auf diese neuen Spuren stürzte, war Schäfer klar: Zwei tote Tschetschenen, das war zwar für die Angehörigen tragisch, aber in den Augen eines Großteils der Bevölkerung waren damit zwei potenzielle Verbrecher weniger auf Wiens Straßen unterwegs; ein Racheakt im Milieu, zwei, drei Beiträge im Chronikteil, aber kein Knüller, der für Quoten sorgte. Wenn es jedoch eine Verbindung zu wohlhabenden und einflussreichen Kreisen gab, sah die Sache anders aus. Damit ließe sich vielleicht der eine oder andere Bonze zu Fall bringen, damit konnte die Leserschaft in ihrem Gefühl bestätigt werden, dass die Unmenschlichkeit und Skrupellosigkeit der Reichen an der gegenwärtigen Misere schuld war. Ein Urteil, dem sich Schäfer nicht ganz verschließen konnte. Gleichzeitig wusste er aus Erfahrung, wie schnell ein vermeintlich Zukurz-Gekommener seine Moralvorstellungen über Bord warf, wenn sich die Gelegenheit bot, straffrei zu schnellem Geld zu kommen. Niemand war unschuldig.
Vor der Besprechung hatte Schäfer Bruckner und Leitner in der Cafeteria getroffen und mit ihnen über den Fall gesprochen. Mittlerweile waren zahlreiche Hinweise auf die Täter eingegangen, doch ernsthaft Verdächtige hatten noch keine ausgeforscht werden können. Laut Bruckner lag es auf der Hand, warum es so schwierig war, trotz Zeugen und präziser Täterbeschreibungen Durchsuchungsbefehle zu bekommen und Vernehmungen durchzuführen. Der Innenminister war einfach noch unschlüssig, was seinem Ansehen mehr schaden könnte: die mediale Aufregung, die sich wie immer bald legen würde, oder die Verstimmung der russischen Regierung, deren Verstrickung in die Morde zumindest wahrscheinlich war.
„Warum regt sich der Staatsanwalt nicht auf?“, wollte Schäfer wissen.
„Weißt du, wer seit letztem Jahr das Justizministerium hat?“, antwortete Bruckner resigniert, stürzte seinen Kaffee hinunter und knallte die leere Tasse auf den Tisch.
Die Besprechung zog sich über den ganzen Vormittag. Der Polizeipräsident hatte eine Sonderkommission aus zehn Leuten eingesetzt, die ihm direkt unterstand. Als Strasser eine führende Rolle in dieser Kommission zugesprochen wurde, sah Schäfer zu Bruckner hinüber, dessen Augenbrauen zu zittern begannen. Ausgerechnet Strasser … der vor ein paar Wochen noch im Mostviertel nach den Zeltfesten betrunkene Bauern vom Traktor geholt hatte. Unfassbar, dachte Schäfer, wenn sie es nicht mit echten Toten und dementsprechend viel Leid zu tun hätten, wäre ihr Job wohl einer der spaßigsten überhaupt.
Nachdem die bisherigen Ergebnisse der Ermittlungen durchgesprochen und die Aufgabenteilung geklärt war, meldete sich Revierinspektorin Kovacs zu Wort: „Wie schaut es denn mit der toten Frau aus, die …“
„Das besprechen wir gleich nachher in meinem Büro“, unterbrach sie Schäfer, „diese Ermittlung werden wir in Anbetracht der Ereignisse auf kleiner Flamme fahren.“
Kamp warf Schäfer einen mahnenden Blick zu, packte seine Unterlagen zusammen und stand auf, womit die Besprechung beendet war. Am Gang trat Schäfer auf Kovacs zu und ersuchte sie, mit ihm in die Cafeteria zu kommen.
„Erst mal Entschuldigung dafür, dass ich Sie da drinnen abgewürgt habe und für das geschwollene Gerede“, sagte Schäfer, nachdem er zwei Teetassen auf ihrem Tisch abgestellt hatte. „Ich hatte gestern eine Unterredung mit Oberst Kamp“, fuhr er fort, „darüber, wie wir uns in den nächsten Monaten aufstellen
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