Ohnmachtspiele
ich habe ihr erst mit der Gesundheitsbehörde drohen müssen, aber dann kam gleich ein Fäxlein geflogen.“
„Sehr poetisch. Und?“
„Fünfzehn Gäste mit siebenundzwanzig Vorstrafen.“ Bergmann reichte das Papier über den Schreibtisch. „Ich schicke Ihnen die Datei.“
„Machen wir einen Unfall draus?“ fragte Schäfer seufzend, wartete, bis das Mail eintraf, und begann die Liste durchzugehen. Körperverletzung, Einbruch, Sachbeschädigung, Betrug, Autodiebstahl … in der Nähe des Friedhofs schienen sich einige Unterweltler sehr wohlzufühlen. Schäfer teilte die Personen in zwei Gruppen auf und machte einen Ausdruck. Dann zog er seinen Mantel an und verließ das Büro. Auf dem Weg nach draußen schaute er bei Kovacs vorbei und übergab ihr die Liste. Er versprach, ihr einen Beamten der Sicherheitswache zuzuweisen, mit dem sie die Befragungen durchführen konnte, und ging.
Als er in einer Pizzeria zwei Straßen weiter in einem Teller mit Penne herumstocherte, läutete sein Telefon. Seine Nichte, die wissen wollte, wie es ihm ging und ob er nicht am Wochenende nach Salzburg kommen könnte. Schäfer wusste, dass er sich das bei der momentanen Situation auf keinen Fall erlauben sollte – auch wenn er bei den Ermittlungen zu den Tschetschenenmorden nicht an vorderster Front stand. Dennoch sagte er zu. Es konnte nicht schaden, den Sumpf, in dem er watete, kurzzeitig zu verlassen. Ja, es würde ihm guttun, wieder einmal aufs Land zu kommen, in den Bergen zu sein, seinen Bruder Jakob und dessen Familie zu sehen – da konnte er seiner Nichte nur recht geben. Vielleicht schien dort sogar die Sonne.
6
Die zwei Tage in Salzburg taten Schäfer gut: das fast schon aufdringliche, aber durchaus schmeichelhafte Interesse seiner Nichte an seiner Arbeit, die hausgemachten Mahlzeiten, die Sonne, von der er vergessen hatte, dass sie durchaus auch den ganzen Tag zu scheinen imstande war – und da ihn bis Samstagabend niemand von der Arbeit angerufen hatte, war sein schlechtes Gewissen auch nicht von langer Dauer. Wie immer hatte er vergessen, seiner Nichte ein Geschenk mitzubringen; und wie meistens hatte er eins bekommen – dieses Mal einen Gedichtband von Georg Trakl, dem düsteren Expressionisten, der in Salzburg geboren worden war und zeit seiner Tätigkeit als Apotheker dem exzessiven Konsum von Kokain, Chloroform und Morphium gefrönt hatte, wie Schäfers Nichte während des Abendessens aufgekratzt berichtete. Warum sich seine Tochter für so etwas interessiere, fragte Jakob besorgt, als sie nach dem Essen zu zweit in der Küche standen und das Geschirr in die Spülmaschine räumten. Ob das nicht bedenklich wäre, diese Todespoesie eines lebensmüden Dichters, der mit siebenundzwanzig an einer Überdosis gestorben war, so etwas zu verherrlichen …
„Sie verherrlicht nichts“, stoppte Schäfer seinen Bruder. „Sei froh, dass sie sich für Kunst interessiert … in dem Alter ist das Morbide eben noch sehr attraktiv … wenn man noch nicht selber dem Verfall preisgegeben ist …“
„Na, jetzt übertreibst du aber“, meinte Jakob, „ich fühle mich dem Verfall jedenfalls noch nicht preisgegeben. Ich schaffe es auf den Untersberg in unter zwei Stunden, was man von Lisa nicht behaupten kann …“
„Mein Gott“, ereiferte sich Schäfer, „jetzt bist du schon wie Papa früher … was soll denn ein achtzehnjähriges Mädchen auf dem Untersberg? Hart gekochte Eier aus der Proviantdose essen? Wir haben damals Joy Division gehört und uns abgelaufene Medikamente eingeworfen, von denen wir nicht einmal genau gewusst haben, was sie bewirken sollen …“
„Das habe ich sehr wohl gewusst!“, wehrte sich Jakob, „das waren Appetitzügler …“
„Scherz, oder?“
„Nein“, meinte Schäfers Bruder verlegen, „Phentermin, Ephedrin, Aminorex … klassische Anorektika, die mit dem verwandt sind, was man heute als Ecstasy kennt …“
„Aminorex … das klingt wie ein Dinosaurier …“
„Na so ungefähr haben wir uns damals auch gefühlt“, konnte Jakob das Lachen nicht mehr zurückhalten.
Am Sonntag besuchte Schäfer mit seiner Nichte das Traklhaus am Waagplatz. Zu Lisas Bedauern hatte das Museum geschlossen. Schäfers Enttäuschung hielt sich in Grenzen; er hatte das Zwei-Zimmer-Museum Jahre zuvor einmal besucht und sich gähnend durch einen Diavortrag gequält, den eine halbgreise Literaturprofessorin mit Auszügen aus Trakls Lyrik begleitet hatte – geistiges Chloroform, ohne eine Spur von
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