Ohnmachtspiele
Grund, sie zu töten? Ihr Mann hatte kein Motiv und zudem ein Alibi. Kovacs hatte keinen einzigen Verdächtigen ausfindig machen können. Und auf den Presseaufruf hatte sich außer den üblichen Verrückten ebenfalls niemand gemeldet. Warum beharrte er dann darauf, den Fall weiter zu untersuchen? Weil er sich nicht damit abfinden wollte, dass das Schicksal oder der Zufall so grausam sein konnte, dieses glückliche Paar zu zerreißen? War ein Mörder denn die bessere Antwort? Zumindest war es eine Antwort.
Die beiden Tschetschenen kümmerten ihn recht wenig. Er hatte keinen Bezug zu ihnen, wollte auch keinen; sollte er sich das zum Vorwurf machen? Sein zeitweiliges Zwei-Klassen-Denken, mangelnde Menschlichkeit … wer konnte es ihm verdenken … die Ostkriminellen wüteten zurzeit zu massiv, als dass er sich auch noch die Toten zu Herzen nehmen wollte, die aus ihren eigenen Reihen stammten. Denn so sehr er den Gedanken begrüßte, alle europäischen Staaten in einem gemeinsamen Projekt eingebunden zu sehen: Wenn wieder einmal irgendein Bulgare, Rumäne oder Georgier mit einem Messer auf einen Kollegen losging, wünschte er sich die Todesstrafe oder den Eisernen Vorhang zurück. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Laura Rudenz, zu der ließ sich noch nicht viel sagen. Wenn es sich um ein Verbrechen handelte, sah es nach einer Beziehungstat aus. Kein Einbrecher ging so vor, da stand ein Plan dahinter; wenn es denn tatsächlich Mord war. Den Ehemann würden sie noch ordentlich in die Zange nehmen.
Dann war da noch der Schweizer: Um den würde er sich allein kümmern müssen. Da konnte er nicht auf die Unterstützung von Bergmann hoffen und seinen jüngeren Kollegen wollte er nicht unnötig Schwierigkeiten mit Kamp und dem Polizeipräsidenten bereiten. Zugegeben: Insgeheim zog er es sogar vor, sich diesem Fall ohne Einmischung von außen und eher wie einem Hobby zu widmen. So konnte er den Weg vorgeben, seine Richtung und sein Tempo gehen, die Regeln selbst bestimmen, keine Knüppel zwischen den Beinen. Die sollten ihn doch alle am Arsch lecken. Schäfer, Schäfer, verlauf dich nur nicht.
Auf dem Weg ins Kommissariat kam er an einer Baustelle vorbei. Ein dunkelhäutiger Mann stemmte im Regen mit einem Presslufthammer den Straßenbelag auf, die Ärmel seines groben Wollpullovers waren hochgeschoben, die Muskeln an den Unterarmen zitterten, als wollte sich das Fleisch von den Knochen lösen. Ein paar der Autofahrer, die wegen der Sperre der einen Spur im Stau standen, hupten wütend, in ihren Gesichtern konnte Schäfer eine sinnlose Erregung sehen. Bald wäre die Straße an dieser Stelle fertig saniert und ein anderes Stück wäre an der Reihe. Und so ging es weiter und immer gäbe es irgendwo eine Baustelle und Menschen, die sich über die aufregten, die dort arbeiteten. Schäfer zündete sich eine Zigarette an und beschleunigte seinen Schritt, um nicht völlig durchnässt ins Kommissariat zu kommen.
Bergmann hatte inzwischen einen ersten Bericht fertiggestellt und auf Schäfers Schreibtisch gelegt. Er setzte sich und überflog die Seiten. Bergmann hatte recht: Der Fall war seltsam – irgendwie altmodisch, dachte Schäfer und griff zum Telefon, um Kovacs zu sich zu bitten.
„Setzen Sie sich“, forderte er sie auf, nachdem sie das Büro betreten hatte.
„Wir haben einen neuen Fall, bei dem ich Sie gern dabeihätte“, sagte er und reichte ihr den Bericht. „Bis jetzt haben wir folgende Chronologie: Laura Rudenz und ihr Mann sind am Abend gemeinsam zu Hause. Sie beginnen sich zu streiten, weil sie ihm vorwirft, dass er sich immer mehr von ihr entfernt … laut Aussagen des Mannes hat sie vor drei Monaten eine Fehlgeburt gehabt und sich nie ganz erholt … sie soll depressiv gewesen sein, dann wieder jähzornig, grundlos eifersüchtig … dann hat er tatsächlich eine andere kennengelernt. Und zu eben dieser ist er gegen einundzwanzig Uhr gefahren, nachdem er sich die Vorwürfe seiner Frau nicht mehr gefallen lassen wollte. Währenddessen, so die Unschuldsversion, hat seine Frau ein paar Tranquilizer mit einem Glas Wein hinuntergespült, sich in die Badewanne gelegt und ist ertrunken. Laut Gerichtsmedizin ist sie spätestens um zweiundzwanzig Uhr gestorben … das Zeitfenster lässt aber auch die Möglichkeit offen, dass ihr Mann sie um einundzwanzig Uhr ertränkt hat und dann erst zu seiner Neuen gefahren ist.“
„Was ist das mit der Tür?“, wollte Kovacs wissen, während sie die Tatortbilder
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