Ohnmachtspiele
stand auf und nahm seine Jacke vom Haken.
Als er zur U-Bahn ging, fiel ihm ein, dass er sich seit zwei Tagen weder geduscht noch die Zähne geputzt hatte. Er hauchte in die hohle Hand und fuhr sich anschließend mit der Zunge über die Zähne. Bevor er zu Kamp ins Zimmer ging, richtete er sich noch vor einer Glasschiebetür die Haare.
„Ah, Sie wollen mir den Rest geben!“, empfing ihn Kamp, der gar nicht so elend aussah, wie Schäfer ihn sich vorgestellt hatte.
„Es tut mir leid.“ Schäfer war zu seinem eigenen Missfallen schon wieder den Tränen nahe.
„Ach“, winkte Kamp fast fröhlich ab, „hören Sie mit dem Geraunze auf. Ich sage Ihnen was: Seit ich einigermaßen sicher bin, dass ich nicht eingehe, genieße ich das hier richtig. Einzelzimmer … haben Sie eigentlich eine gute Zusatzversicherung, Schäfer? … Ruhe, warmes Essen … und das hat mir die liebe Frau Kovacs heute mitgebracht“, sagte er und deutete auf sein Nachtkästchen, wo die Gesamtausgabe von Dürrenmatt stand.
„Wie der alte Bärlach.“ Schäfer konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und bekam gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil er selbst darauf vergessen hatte, Kamp etwas mitzubringen.
„Ja ja, ‚Der Verdacht‘.“ Der Oberst richtete sich in seinem Bett auf. „Habe ich vor zwei Stunden angefangen und bin schon fast durch … großartiges Buch … fast nostalgisch bin ich geworden … wie ich selbst noch an der Front war … ja … nun, wie wär’s mit einem Kartenspiel, Major?“
„Ähm … wenn Sie welche da haben …“
„Ich nicht. Aber Sie haben doch ohnehin welche, oder?“
Schäfer schluckte und sah seinen Vorgesetzten verunsichert an.
„Ja ja“, fuhr Kamp heiter fort, „die Geschwätzigkeit eines Trafikanten sollte ein guter Polizist nie unterschätzen. Fragt der mich doch gestern, ob uns die Mörder ausgehen, weil wir jetzt Zeit haben, Karten zu spielen. Karten spielen?, frage ich … ja ja, der Herr Major, der hat neulich welche gekauft … lassen Sie’s gut sein, Schäfer … ich will gar nicht genau wissen, was Sie jetzt wieder aushecken oder wie der Laubkönig in dieses Auto gekommen ist … eine Woche lasse ich es mir noch im Hotel AKH gut gehen, dann zwei Wochen zu Hause, dann ist Weihnachten … oh Tannenbaum, oh Tannenbaum …“
„Ich bin froh, dass Sie hier in guten Händen sind“, versuchte Schäfer etwas unbeholfen, das Thema zu wechseln.
„Das kann man sagen … kennen Sie übrigens Oberarzt Frank? Nein? War mit mir im Gymnasium. Wenn die hier nicht so eine neumoderne Verglasung hätten, wo man kein Fenster aufmachen kann, würden wir wahrscheinlich jeden Abend hier Cognac trinken und Zigarren rauchen, haha …“
„Bekommen Sie eigentlich Medikamente?“ Schäfer kam die Euphorie des Obersts nun doch etwas übertrieben vor.
„Was immer mir die da einflößen“, Kamp deutete auf den Tropf über ihm, „die wissen schon, was sie tun.“
„Na, da bin ich richtig erleichtert.“
„Sie haben sich schuldig gefühlt, nicht? Das vergönne ich Ihnen, Sie … Sie Zecke …“ Kamp schien plötzlich von Müdigkeit überwältigt zu werden. Schäfer hielt es für besser, den Oberst schlafen zu lassen.
„Eins noch, bevor Sie gehen“, meinte Kamp leise und ergriff Schäfers Unterarm, „ich habe nachgedacht … vielleicht haben Sie ja schon wieder recht … Malefiz noch mal … mit Ihrem … Sie wissen schon … und … jetzt, wo ich mir das nicht mehr so zu Herzen nehmen muss … das war jetzt nicht gegen Sie gemünzt … ich hatte einmal ein ähnliches Problem … das ist schon dreißig Jahre her … können Sie sich noch an die Peichl-Bande erinnern? … Nein? … Jedenfalls hat mir da auch niemand geglaubt … keine Leute … gerade dass ich nicht mit dem weißen VW-Käfer die Observationen gemacht habe … ja … jedenfalls, was ich sagen wollte … ich hatte einen Freund bei der Zeitung … und da kamen dann gewisse, nennen wir es ‚Tatsachen mit Fragezeichen‘ an die Öffentlichkeit … das kann durchaus hilfreich sein … im Übrigen hat man mir gesagt, dass Sie mich besucht haben, ich habe jedoch geschlafen und so blieb uns jede Möglichkeit verwehrt, ein Gespräch zu führen. Gute Nacht, Major, viel Glück!“
Schäfer ergriff Kamps Hand und hielt sie so lang, bis dieser sie ihm entzog, eine wegwerfende Geste machte, die Augen schloss und den Kopf zur Seite drehte.
Auf dem Heimweg dachte Schäfer darüber nach, was Kamp ihm hatte sagen wollen. Sein labiler
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