Ohnmachtspiele
Lisa. Nachdem sie alle gemeinsam zu Abend gegessen hatten, wurden die Geschenke verteilt. Von seinen Eltern bekam Schäfer einen Wok, von seiner Nichte den Comicroman „Watchmen“ und eine CD, von seinem Bruder einen iPod – was sie ebenso erheiterte wie berührte.
Lisa trug ihre neue Hasenfelljacke bis zum Schlafengehen, obwohl der Kachelofen im Wohnzimmer für fünfundzwanzig Grad gesorgt hatte. Zeitweise hing sie an Schäfer, dass es ihm schon unangenehm war. Sie war kein Kind mehr, und wenn sie sich an ihn drückte und er ihre Brüste an seinem Oberarm spürte, wusste er nicht, was er davon halten sollte. Vielleicht hatte ihn sein Beruf in dieser Beziehung übersensibilisiert, und er konnte die Zuneigung seines Patenkinds nicht genießen, ohne dabei an all die Perversen erinnert zu werden, die ihre Töchter, Nichten und Enkelinnen zu ihrer eigenen Befriedigung missbrauchten.
Nachdem die Familie bis auf ihn und seinen Bruder schlafen gegangen war, blieben sie noch zwei Stunden im Wohnzimmer, Schäfer auf der Ofenbank, den Rücken an die Kacheln gedrückt, Jakob auf der Couch, ein halbvolles Weinglas vor sich.
„Wie geht’s dir mit … deinen Stimmungen“, fragte Jakob, während er in der Bedienungsanleitung für seinen neuen iPod blätterte.
„Gut … auf und ab … wie immer … momentan: Tendenz nach oben …“
„Nimmst du was?“
„Nein …“
„Aber du gehst noch zu deinem Therapeuten?“, fragte Schäfers Bruder und legte die Bedienungsanleitung weg.
„Ja“, erwiderte Schäfer und griff zur Weinflasche, die zwischen ihnen auf dem Boden stand.
„Bringt es dir was?“
„Ich denke schon … ich meine …“ Schäfer nahm einen Schluck Wein.
„Was?“
„Ach … es ist bescheuert, aber … es … macht einfach keinen guten Eindruck, bei …“
„Ich weiß nicht genau, wovon du jetzt redest … es macht keinen guten Eindruck, dass du zu einem Therapeuten gehst?“
„Ja … nein … ich meine, ich bin Polizist und …“
„Oh Gott, Johannes … wir schreiben nicht mehr 1980, oder? … Und du bist nicht der Terminator. Wer, wenn nicht jemand, der jeden Tag mit Mördern zu tun hat, hätte das Recht, einen Therapeuten aufzusuchen. Das sind sie dir schuldig!“
„Schon klar“, erwiderte Schäfer, „reden wir von was anderem … Wie geht’s mit Lisa?“
„Verdrängen und ablenken“, sagte sein Bruder verstimmt, „dass du das aufgibst, wäre schon ein Schritt in die richtige …“
„Ja ja ja“, wehrte Schäfer ab, „ich gehe ja hin und ich rede mit dem Mann, okay? … Jakob, ich bin nicht dein Patient, ich kriege das schon hin.“
„Natürlich, wie immer“, entgegnete Schäfers Bruder eingeschnappt.
„Also, Rabenvater, wie geht’s mit Lisa?“ Schäfer beugte sich vor und zog seinen Bruder am Ohr.
„Gut …“
„Gut heißt, dass ihr beiden wieder einmal überhaupt nicht miteinander auskommt …“
„Wenn du Bescheid weißt, warum fragst du dann … sie redet ohnehin lieber mit dir …“
„Jetzt machst du mir aber keine Szene, oder, Brüderlein? Ich bin dreihundert Kilometer weit weg von ihr, habe keinerlei Kontrolle über sie und …“
„Keinerlei Kontrolle, hähä … Onkel Johannes hat gesagt, Onkel Johannes meint auch, dass …“
„Jetzt hör auf! Du bist ihr Vater … ich bin nur ein Platzhalter, den sie sich ausgesucht hat für … für …“
„Für was?“, fragte Jakob schnippisch, „für alles, was ich nicht bin und kann?“
„Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ich habe keine Kinder und ich könnte Lisa, so gern ich sie habe, nicht länger als eine Woche aushalten … und sie mich auch nicht … jedes Mal, wenn sie ausgehen will, würde ich ihr einen Streifenwagen mitschicken … und jede Woche einen Drogenhund in ihr Zimmer schicken … ich könnte nie so ein guter Vater sein wie du …“
„Ach, lassen wir das … wie kommt ihr mit diesem Serienmörder voran?“
Kurz bevor Schäfer einschlief, kehrte noch einmal das Bild seiner Eltern wieder, wie sie vor dem Christbaum wegen der zerbrochenen Kugel zankten. Sein Vater hatte geglaubt, dass die restlichen drei genau gleich wären. Seine Mutter hatte ihn über den Unterschied aufklären wollen. Stippl kam ihm in den Sinn. Der Mechaniker war sowohl der Richtige als auch der Falsche. Deswegen hatten sie ihn verhaftet. Weil sie das Handgemalte nicht gesehen hatten. Alles andere stimmte.
30
Er wollte sich von dieser Schönheit einnehmen lassen, sich dem blauen Himmel und dem
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