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Ohnmachtspiele

Ohnmachtspiele

Titel: Ohnmachtspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Haderer
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eigentlich? Wieso bestand Maria darauf, ihm gerade jetzt mit ihrer Stimme ins Herz zu stechen. Und warum war die Haut über seinem Herzen nicht viel dicker? Er rauchte noch eine zweite Zigarette. Als er die Toilette verließ, wartete davor schon eine Frau. Er beeilte sich, zurück ins Abteil zu kommen, konnte ihr Gezeter über diese Unverschämtheit allerdings nicht überhören.
    Kurz vor St. Pölten schaltete er den Laptop ein. Am Westbahnhof hatte er zwei DVDs gekauft, um sich die Fahrzeit zu verkürzen: „Stranger Than Fiction“ mit Will Ferrell und „Stirb langsam 4.0“. Er begann mit Bruce Willis, wurde jedoch binnen einer halben Stunde so müde, dass er den Laptop zuklappte, seinen Mantel als Polster gegen das Fenster legte und einschlief.
    Als er in Kitzbühel aus dem Zug stieg, kehrte unweigerlich und sofort der Sommer in seine Gedanken zurück, in dem die Stadt einen Monat lang im Bann eines Mannes gestanden war, der den Mord an seinem Vater nach dreißig Jahren brutal gerächt hatte. Bluttaten und dahinter verborgene Grausamkeiten, die dem Ort seiner Kindheit endgültig die Unschuld genommen hatten, die ohnehin nur in seiner Vorstellung existiert hatte. Die Fiktion eines letzten Paradieses war damit dahin gewesen – mit den vier Männern war auch etwas in ihm gestorben.
    Freilich war bei seiner Ankunft die Erinnerung das Einzige, das mit Sommer zu tun hatte. Als er über die Achenpromenade in Richtung Stadtzentrum ging, lag dort ein halber Meter Schnee – vielleicht hatte die Reform- und Rationalisierungswut ja auch den hiesigen Bürgermeister erfasst und es wurde nur mehr alle drei Tage Schnee geräumt.
    Ihn störte es nicht. Das allgegenwärtige Weiß nahm der Wirklichkeit die Schärfe; es war kein Märchen, aber doch eine schöne Kulisse. Im Garten seines Elternhauses standen zwei Schneemänner: einer mit einem Stethoskop um den Hals, der andere mit einem Sheriffstern auf der Brust; ein Begrüßungsritual für die beiden Söhne, zu dem seine Mutter ihren Mann jedes Jahr zu Weihnachten in den Garten schickte; und wenn kein Schnee lag, musste er mit alten Leintüchern improvisieren.
    „Steh nicht herum da draußen“, rief ihm seine Mutter vom Küchenfenster aus zu, „ihr Stadtmenschen holt euch ja immer gleich eine Erkältung!“
    Schäfer ging ins Haus, gab seiner Mutter einen Begrüßungskuss und folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sein Vater eben begonnen hatte, den Christbaum zu schmücken.
    „Servus, Papa“, sagt er und gab ihm die Hand, „schaffst du’s noch bis zur Bescherung?“
    „Ja ja“, erwiderte sein Vater mürrisch, „wenn es euch nicht passt, dann macht ihr es nächstes Jahr eben selber.“
    „Provozier ihn nicht noch mehr, Johannes“, rief seine Mutter lachend aus der Küche, „mein armer Mann hat heute schon genug unter mir gelitten!“
    Schäfer setzte sich an den Tisch und nahm eine der kleinen Holzfiguren, die sein Vater eigens für den Christbaum gebastelt hatte. Jedes Jahr im Dezember verbrachte er noch mehr Zeit als sonst in seiner Werkstatt – schnitzte, drechselte, fräste, schraubte –, um seine meisterlichen Miniaturmarionetten bis zum Heiligen Abend fertig zu bekommen. Und jedes Jahr am vierundzwanzigsten gab es die gleiche Diskussion: Der Vater wollte an irgendeiner Figur noch etwas perfektionieren, die Mutter drängte ihn, endlich den Baum aufzustellen, er hätte doch ohnehin genug Figuren aus den letzten Jahren, das verstünde sie nicht, das wäre eine Ehrensache, dann schmollten beide vor sich hin, bis die Kinder kamen, und nützten die streitfreie Zeit, um jeder für sich den Abend vorzubereiten.
    Die Hände seines Vaters zitterten, als er eine Glaskugel an einem der oberen Äste befestigen wollte. Schäfer stand auf, um ihm zu helfen, störte seinen Vater damit jedoch nur in seiner Konzentration, worauf er das kleine Drahthäkchen neben den Zweig hängte und die Kugel zu Boden fiel.
    „Ach, Hans, gerade die von der Mama“, schimpfte Schäfers Mutter, nachdem sie das klirrende Geräusch aus der Küche getrieben hatte.
    „Da haben wir eh noch drei gleiche davon“, wiegelte der Vater ab.
    „Die sind nicht gleich. Schau einmal genau hin, die sind handbemalt und …“
    „Das merkt aber niemand …“
    „Darum geht’s auch gar nicht …“
    Schäfer nahm seine Mutter am Arm und führte sie zurück in die Küche, wo er sich ein Glas Wein einschenkte und sie dabei beobachtete, wie sie das Blaukraut abschmeckte.
    Um sieben kam sein Bruder mit seiner Frau und

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