Ohnmachtspiele
gleißenden Schnee ergeben – es gelang ihm nicht. Für kurze Momente begeisterte ihn das diamantene Glitzern der Schneekristalle, setzte ihm ein verzücktes Grinsen ins Gesicht – dann war es wieder der Mechaniker, an den er denken musste. Er dachte an die Übereinstimmung und an die Abweichung. Jemand, der sich ohne weiteres einen Range Rover nehmen, ihn beschädigen und reparieren konnte, ohne dass es dem Besitzer auffällt. Der wie Stippl den Schweizer ohne Anmeldung arbeiten lässt, ihm vielleicht versetztes Heroin gibt und ihn dann im Wald entsorgt. Es war fahrlässig, dass sie sich die in Frage kommenden Werkstätten noch nicht genauer vorgenommen hatten. Doch wozu sollte er sich an diesem Tag etwas vorwerfen? Immerhin hatte er den Fall ins Rollen gebracht. Und gleichzeitig so etwas wie Ordnung in sein Leben. Natürlich gab ihm die Jagd nach dem Mörder Energie und einen Halt – aber er durfte sich nicht wieder zu sehr verausgaben, nicht wieder über die Grenzen hinausgehen. Er sollte abschalten, schau dir dieses Panorama an, Schäfer … Sonja Ziermann und Laura Rudenz – das war ein anderes Milieu und eine andere Vorgehensweise. Eine Frau zu ertränken, ihren Kopf unter Wasser zu halten, bis das letzte Zucken erstirbt … das war grausamer und mit einer Lust am Töten verbunden, die nicht zum Bild des Menschen passte, der Matthias Rudenz und den Schweizer getötet hatte. Und Irene Chlapec? Zwanzig Jahre früher … wann rückte denn Ballas endlich mit der Akte heraus; gut, er war in Budapest und in Pension … dennoch sollte er Koller anrufen und ihn noch einmal anstoßen. Hatte es damals begonnen? Und warum? Wenn an der Theorie von Pürstl etwas dran war … es musste einen Funken gegeben haben, eine Initialzündung, die das Spiel in Gang gesetzt hatte; etwas, das die Membran durchlässig gemacht und die Lust zu töten ins Hirn hatte sickern lassen. Menschen wie Figuren zu behandeln … mischen, ausgeben, stechen, töten … gewinnen … als Ausgleich, weil man selbst viel verloren hat? Weil man selbst wie eine Figur behandelt worden ist? Aber wann, und von wem?
Sein Bruder war stehen geblieben, um auf ihn, der lang nicht so gut trainiert war, zu warten, und hatte aus seinem Rucksack eine Trinkflasche geholt, die er ihm nun hinhielt. Schäfer nahm einen Schluck.
„Genialer Tag, oder?“
„Ja“, antwortete Schäfer, „besser hätten wir es gar nicht erwischen können.“
Sie waren auf dem letzten Hang unter dem Gipfel, als Schäfer einen Schmetterling bemerkte, der neben ihm auf Kopfhöhe unkoordiniert dahinflatterte. Er blieb stehen und sah dem Tier eine Weile zu. Was machte der hier oben auf fast zweitausend Meter? Hier hatte es trotz der Sonne bestimmt nicht mehr als drei Grad. Er ging weiter und versuchte den Schmetterling im Blick zu behalten, doch der flog voraus und war bald verschwunden. Schäfers Bruder hatte den Gipfel eine Viertelstunde vor ihm erreicht und wartete dort auf ihn.
„Hast du den Schmetterling gesehen?“, fragte Schäfer, als er seine Atmung wieder unter Kontrolle hatte.
„Ja. Ist an mir vorbei, wie ich schon fast oben war … komisch.“
Schäfer legte seinen Rucksack ab und zog sich ein trockenes T-Shirt an.
„Manche Tiere sterben länger, als sie leben“, meinte er und trank seine Wasserflasche in einem Zug halbleer.
Sie waren schon wieder auf dem Parkplatz und kratzten den Schnee von ihren Skiern, als Schäfers Telefon läutete.
„Sir Bergmann. Was gibt’s? … Und was haben wir mit einer Drogentoten zu schaffen? … Verstehe … Nein, ist wohl besser, wenn ich gleich fahre … Nein, kein Problem … Ja, bis bald.“
„Schlechte Nachrichten?“, fragte sein Bruder.
„Wie man’s nimmt … ich muss zurück …“
Sie fuhren zu ihren Eltern, wo Schäfer duschte und seine Sachen packte. Sein Bruder suchte währenddessen im Internet nach Zügen und Flugverbindungen. Mit dem Zug wäre er auf jeden Fall schneller. Nachdem er sich von seinen Eltern und seiner Schwägerin verabschiedet und deren Bedauern über seinen verfrühten Aufbruch entgegengenommen hatte, ließ er sich von seinem Bruder und Lisa zum Bahnhof bringen. Auf dem Bahnsteig umarmte er seine Nichte, gab seinem Bruder die Hand und versprach, dass er sich so bald wie möglich wieder anschauen ließe.
Als die Gipfel der Kitzbüheler Alpen aus seinem Blickfeld verschwanden, fühlte er sich seltsam erleichtert. Weil er damit gerechnet hatte, dass es noch ein Opfer geben würde, und es nun endlich
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