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Ohrenzeugen

Titel: Ohrenzeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wildis Streng
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Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm. Bei manchen kam er damit nicht so gut an. Aber wenigstens wusste jeder, woran er war, wenn er mit Heiko Wüst redete. Ob der ihn leiden konnte oder nicht.
    Er nahm die letzte Rechtskurve und fuhr in den Ort hinein, der sich eng ins Tal duckte. Die Sonne war hier immer schon früh hinter den waldigen Hügeln verschwunden, was dem Ort etwas Düsteres verlieh.
    Trotzdem liebte er Cröffelbach. Es war der Ort seiner Kindheit. Er liebte die bewaldeten Hänge, wo sein Onkel immer mit dem Bulldog rumfuhr, um Bäume zu fällen. Sein Onkel Siegfried. Ein Bär von einem Mann mit riesigen Händen und Füßen. Dabei lang und dünn– kein Gramm Fett war an Onkel Siegfried zu finden, stattdessen jede Menge Muskeln und Sehnen, die von der harten Arbeit herrührten.
    Siegfried Wüst wohnte eigentlich in Enslingen, hatte aber seinen Waldbesitz in Cröffelbach und nutzte daher das Elternhaus als ›Tagesstützpunkt‹. Außerdem konnte er so nach der Oma sehen. Heiko parkte den M3 in der Einfahrt und stieg aus.
    Das Haus war eines der typischen Bauernhäuser aus den 50er-Jahren. Eine enorme Scheune erstreckte sich mitten auf dem Hof, seitlich befand sich ein riesenhafter, überdachter Holzstapel. Das Haus selbst war nicht groß, nur das Erdgeschoss wurde bewohnt.
    Zwar hätte man durchaus auch das obere Stockwerk ausbauen können, aber das Gebäude war so alt, dass sich das kaum rentieren würde. Man musste schon froh sein, dass es stehen blieb.
    Als er ausstieg, räumten mehrere Katzen protestierend maunzend das Feld– allen voran das schwarze und sehr fette Mohrle.
    Seit jeher durften die Katzen nicht ins Haus, sie waren nur willkommene Mäusejäger und wurden deshalb gefüttert. Dem Lebensstil einer Katze kam das wohl sehr zupass, denn mittlerweile war das Rudel auf insgesamt vier Katzen angewachsen.
    Heiko öffnete die Tür– sie war wie immer nur angelehnt, und rief: »Noowad!« Sofort raschelte es im Wohnzimmer und Siegfried Wüst kam in den Flur. Wie bei jeder Tür musste er den Kopf einziehen. Jedoch kam sich im Wohnzimmer, das kaum zwei Meter hoch war, sogar Heiko mit seinen 1,84 groß vor.
    »Hallo!«, grüßte der Hüne und fuhr sich mit einer Hand durch den weißen Bart, der ihn noch wilder wirken ließ und der nur gestutzt wurde, wenn es gar nicht mehr anders ging.
    Er linste über seine Lesebrille und fragte: »Willsch an Kaffee?« Heiko nickte. Es war ein Ritual. Er kam oft nach Feierabend hierher, um mit seinem Onkel und seiner Oma einen Kaffee zu trinken. Und er brachte immer Butterbrezeln mit, aber nicht irgendwelche. Sondern die weltbesten Butterbrezeln aus der Bäckerei in Wolpertshausen. Seine Oma war ganz verrückt danach.
    Und Sieger auch. Heiko mochte Sieger und schätzte dessen ehrliche Art. Und auch, wenn Siegfried nicht gerade ein Doktor der Philosophie war, so besaß er doch Herzenswärme und Güte.
    Auf dem Sofa lag seine Oma, wie üblich in einen Kleiderschurz gewandet, und sah hoch zum Fernseher, wo gerade irgendeine Soap lief.
    Heiko ging zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Die Oma blinzelte, weil sie nicht mehr gut sehen konnte. Aber auch, wenn sie schlecht sah und noch schlechter hörte, so war ihr Verstand immer noch scharf. Und sie hasste es, für senil gehalten zu werden. Stöhnend setzte sie sich auf. »Hallo, Heiko!«, sagte sie mit ihrer alten brüchigen Stimme und tätschelte seinen Handrücken.
     
    Wenig später saßen sie zu dritt am Wohnzimmertisch, auf dem schon seit 20 Jahren dieselbe geblümte Wachstuchtischdecke lag. Seit mindestens 50 Jahren war die Einrichtung die gleiche. An der Wand stand das Sideboard, eine Art Wohnwand aus den 50ern. Kirschbaum massiv. In der oberen Etage des Sideboards gab es eine Vitrine, die vollgestopft war mit Souvenirs aller Art.
    Auf dem Boden lag ein brauner Teppichboden und an der Wand stand ein abgewetztes Sofa. Die Sitzbänke, die um den Tisch gruppiert waren, waren bordeauxrot bezogen, die Farbe des Stoffes verblichen.
    »Und sonst?«, fragte Onkel Sieger, wie Heiko ihn nannte.
    »Ja«, sagte Heiko und trank einen Schluck Kaffee aus einem Becher mit der Aufschrift ›Ich bin der Größte‹.
    Sein Onkel hatte eine Tasse mit einer Werbebotschaft von Würth, dem Schraubenfabrikanten aus dem nahe gelegenen Gaisbach und die Oma eine mit Blümchenmuster. Sie kaute bereits zufrieden auf ihrer Butterbrezel herum.
    »Wie läuft alles?«
    »Ach, ein Mord«, erzählte Heiko und trank wieder Kaffee.

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