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Ohrenzeugen

Titel: Ohrenzeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wildis Streng
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die Nazizeit zurückwünschen. Weil da alles so ordentlich und geregelt war.«
    »So«, machte Lisa und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nun, das würde zu ihm passen, finde ich.«
    »Kann schon sein«, brummte Heiko. »Und die Kinder?«
    Er nahm einen Schluck Kaffee. »Also ein besonders guter Vater war er wohl nicht, der Herr Weidner.«
    Lisa rührte wieder. »Diesen Max haben wir ja noch gar nicht gesehen. Ist doch auch seltsam, dass den das Ganze anscheinend so gar nicht interessiert.«
    Heiko beobachtete ihre schlanken Finger beim Rühren. »War bestimmt nicht das beste Verhältnis. Der Außenseiter der Familie. Vater Agrartechniker, Sohn Innenarchitekt.«
    Lisa zog eine Augenbraue hoch. Die linke. »Agrartechniker?«
    »Bauer!«
    Lisa nickte grinsend. »Deshalb hat auch Karl Weidner so einen Hass auf seinen Bruder.«
    »Na, mehr als Ausmisten kriegt der Karl doch nicht hin. Zum Führen eines Hofes ist der doch viel zu dumm.«
    Lisa schlürfte wieder Milchschaum. »Kann schon sein, dass er neidisch ist. Aber das hat mit dem Mord nichts zu tun. Er ist außerdem der einzige, der wirklich traurig wirkt!«
    »Wohl nicht«, gab Heiko zu. »Nehmen wir doch mal die anderen Mitglieder des Kleintierzuchtvereins unter die Lupe!«, schlug er dann vor.
    Lisa antwortete nicht. Stattdessen blickte sie irritiert auf die Speisekarte. Ihre Lippen formten Buchstaben wie bei einem Kind, das lesen lernt und das Wort nicht versteht.
    »Was ist?«, fragte Heiko.
    Lisa schüttelte den Kopf. »Was, bitte, ist ein Horaaaahff?«, wollte sie dann wissen.
    »Ein Horaff meinst du? Nun, ein Horaff ist ein Hefepopo.«
    »Bitte, was?«
    Heiko senkte bekräftigend die Lider. »Ja, ein Hefepopo. Die Crailsheimer sind Horaffen!«
    »Das musst du mir erklären!«
    »Es gibt da eine Sage von der Eroberung Crailsheims. Vielmehr: Von der versuchten Eroberung! Denn natürlich hatten die Belagerer gegen die Hohenloher keine Chance.«
    Lisa lehnte sich nach vorne und signalisierte damit ihre Bereitschaft zum Zuhören.
    Heiko räusperte sich. Er war kein guter Erzähler. Schon gar nicht, wenn sie ihn derart nervös machte.
    »Also, ähm, im Jahre 1379 wurde Crailsheim von Schwäbisch Hall, Rothenburg und Dinkelsbühl belagert. Die haben halt auch gemerkt, dass Crailsheim was Besonderes ist, und wollten uns eben annektieren.«
    Lisa hörte zu und blickte ihn weiterhin auffordernd an.
    »Und dann, also die haben versucht, uns auszuhungern, aber natürlich haben die Hohenloher durchgehalten!«
    »Natürlich«, grinste Lisa.
    »Und eines Tages war aber doch absehbar, dass die Belagerer es schaffen würden, die Crailsheimer auszuhungern. Die Überzahl war halt doch zu gewaltig und in so einer Stadt gehen auch bei der besten Organisation die Vorräte eben irgendwann zur Neige. Und da haben die Crailsheimer beratschlagt, was zu tun wäre. Und man beschloss, aus dem letzten Mehl Horaffen zu backen. Hefepopos, wenn du so willst.
    Und da gab es die Bürgermeisterin. Die Bürgermeisterin war, nun, gscheit beianander, also sagen wir mal, vollschlank. Die Crailsheimer backten also ihre Horaffen und die Bürgermeisterin setzte sich auf die Stadtmauer. Die Feinde warteten auf eine Kapitulation. Aber es kam keine. Stattdessen entblößte die Bürgermeisterin ihr gewaltiges Hinterteil und die Bürger warfen dazu die Horaffen über die Stadtmauer. Daraufhin meinten die Belagerer, die Crailsheimer seien ja noch so fett und hätten zudem noch Mehl im Überfluss, und es hätte keinen Sinn, weiterzumachen. Sie zogen ab und Crailsheim war gerettet!«
    Lisa runzelte die Stirn. Sie wusste offenbar nicht, ob er die Geschichte nicht gerade erfunden hatte. »Wirklich!«, fügte er also hinzu, um seiner Erzählung Nachdruck zu verleihen.
    »Und jetzt?«
    »Na ja, und jetzt ist der Horaff eben sozusagen das Nationalgebäck! Am Stadtfeiertag kriegt jedes Kind einen und auch in Altersheimen und ähnlichen Einrichtungen werden die Horaffen verteilt.«
    »Und sind die gut, diese Horaffen?«
    »Probier halt mal, schmeckt echt gut!«, ermunterte Heiko und winkte der Bedienung.
     
    Fünf Minuten später kauten beide auf einem Horaff herum. Lisa hatte sich königlich amüsiert, als sie das Gebäck zum ersten Mal erblickt hatte. Die zwei runden Bögen sahen tatsächlich nach Popo aus. Aber dann hatte sie hineingebissen und den Horaff für durchaus schmackhaft befunden. Weicher, aber nicht zu fluffiger Hefeteig, außen mit einer leichten Kruste, das Ganze überzogen von einer

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