Ohrenzeugen
griff er wahllos ein Buch heraus und besah es sich. Der Schutzumschlag war makellos. ›Quo Vadis‹ hieß es. Sagte ihm nichts. Egal.
Er setzte sich in den Sessel und schlug das Buch auf. Dabei hielt er es so locker, dass etwas herausfiel. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein Briefumschlag. Adressiert an seine Mutter. Warum um alles in der Welt bewahrte seine Mutter ihre Post in Büchern auf?
Er sah sich um, aber natürlich war er allein. Für eine Sekunde überlegte er, ob er seine Mutter morgen einfach nach dem Brief fragen sollte, aber seine Neugier siegte. Und so entnahm er dem Kuvert das sorgsam gefaltete Papier und begann zu lesen.
Freitag, 17. April
»Da ist jemand für euch«, sagte Simon. »Ein Karl Weidner.«
Lisa und Heiko, die sich gerade noch einmal die Akte vorgenommen hatten, horchten auf. »Soll reinkommen«, meinte Heiko und steckte seine Nase wieder in die Akte.
Die Tür wurde zaghaft aufgeschoben und Karl Weidner trat ein, sich räuspernd, in den zu kurzen Cordhosen von einem Bein aufs andere tretend. Er grüßte schüchtern.
Heiko wies auf den leeren Stuhl. »Setzen Sie sich, Herr Weidner«, forderte er ihn auf und es klang wohl so autoritär, dass Karl, der unentwegt seine Mütze zwischen den Händen knetete, noch unsicherer wurde.
»Worum geht es denn?«, fragte Lisa und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Karl zögerte, schließlich jedoch steckte er seine Hand in die Jackentasche und förderte ein zusammengefaltetes und arg zerknittertes Blatt Papier zutage.
»Das hab’ ich daheim gefunden«, sagte er langsam. »Ich weiß auch nicht, ob es recht ist, dass ich es euch gebe, aber wenn’s hilft, erzählen Sie’s aber bitte nicht rum, vor allem der Schumacherin nicht.« Lisa streckte fordernd die Hand aus und legte das Blatt auf den Schreibtisch.
»Halt«, sagte Heiko, »Fingerabdrücke!«
Lisa nickte und mit Hilfe einer Pinzette, die Heiko aus den Tiefen seiner Schreibtischschublade fischte, entfalteten sie den Brief.
»Der ist an meine Mutter adressiert.« Karl lief rot an. »Aber nicht, dass Sie jetzt schlecht von ihr denken!«
Lisa und Heiko überflogen die Zeilen.
»Es war richtig, dass Sie uns den Brief gegeben haben«, beruhigte Lisa. »Das hilft uns tatsächlich weiter!«
Zum ersten Mal erschien ein unsicheres Lächeln auf Karls Lippen.
»Haben Sie eine Ahnung, von wem der sein könnte?«, fragte Heiko und fixierte Karl. Der schüttelte den Kopf. »Nooh. Ich kann’s mir gar nicht denken.«
Heiko nickte. »Danke«, sagte er, und das war für Karl das Zeichen zum Aufbruch.
Heiko zündete sich eine Kippe an und las den Brief noch einmal laut vor:
»Meine geliebte Erna, unser letztes Treffen hat mich so sehr beschäftigt, dass ich nur noch an Dich denken kann! Ich kenne keine andere Frau, die so liebevoll, gütig und schön ist wie Du! Umso entsetzter bin ich über den Menschen, der Dein Mann ist! Erna, er hat Dich nicht verdient! Er weiß Dich nicht zu schätzen! Nicht so, wie ich es tue. Komm mit mir, Erna, lass uns fortgehen, einfach verschwinden, weg von hier, weit weg. Dahin, wo uns keiner kennt! In Liebe, Dein H.H.!«
»Klingt pathetisch«, fand Lisa und trank einen Schluck Automatenkaffee.
Heiko stimmte zu. »Und wer ist ›H.H‹?
»Winterbach?«, vermutete Lisa eher halbherzig.
»Quatsch, der steht auf Silke!«
»Vielleicht hat er umdisponiert, um den Hof zu kriegen.« Heikos Finger spielten gedankenverloren mit einem Malachit. Nein, das war völlig abstrus. »Wir müssen alles noch mal durchgehen. Und der Uwe soll den Brief auf Fingerabdrücke untersuchen. Im Notfall machen wir ein graphologisches Gutachten.«
Lisa kniff die Augen zusammen. »Die Schrift sieht nicht sehr speziell aus.«
»Das sind Experten, die können so was!«, belehrte Heiko.
Eine Pause entstand, in der Lisa die Zeilen noch mehrmals überflog. »Gut, bringen wir den Brief zum Uwe!«, schlug sie dann vor. »Der soll den Brief auf Fingerabdrücke untersuchen.«
Im Da Silvio war es heute verraucht. Diesmal war mehr los als beim letzten Mal, gesetzte Ehepaare in den 50ern saßen Tisch an Tisch mit der Dorfjugend, die sich bei Bier und Pizza geräuschvoll unterhielt. Und inmitten dessen, stoisch und unumstößlich wie Felsen im Meer, saßen Fritz Maler, Herbert Winterbach und Willi Held unter ihrem Stammtischschild und spielten Karten.
»Noowad«, grüßte Heiko und Lisa sagte artig: »Guten Abend.«
»Ah, der Kommissar und sei hübsche Kollegin!«,
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