Ohrenzeugen
Forstverkehr frei‹ baumelte.
Heiko warf die Kippe weg, stieg ab und öffnete die Schranke. Er wartete, bis das Bulldog-Ungetüm mit den riesigen Rädern passiert war und ließ die Schranke dann wieder herunter. Als er wieder aufsaß, befanden sie sich in einer anderen Welt.
Das Vogelgezwitscher war verhalten, aber ständig vorhanden, wurde im Moment aber deutlich übertönt vom Tuckern des Motors.
Vor ihnen huschte eine Maus über den Weg.
Der grüne Mischwald bildete ein hohes Blätterdach in frischem Hellgrün, unter dem man sich fühlte wie in einer Kathedrale.
Der Motor schien leiser zu werden, als wolle er die Ruhe des Waldes nicht über Gebühr stören. Wie ein weiches Polster aus feuchter, duftender Erde breitete sich der Waldboden aus, Moos in einem Grün, das so intensiv war wie das Grün im Wasserfarbkasten, und abgestorbenes Holz, das von Baumpilzen überwuchert wurde.
Ein Stück weiter vorne fiel der Waldboden plötzlich ab. Der Wald lag am Hang und das war nicht ungefährlich. Hatte man erst einmal den Halt verloren, so fiel man meistens bis ganz unten. Ein Wassertropfen landete genau auf Heikos Nasenspitze. Er schüttelte sich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
Dann hörte er den Eichelhäher, den Wächter des Waldes, der nie außer Dienst war. Empörte Rufe ausstoßend, flog der Vogel schimpfend vor ihnen her.
»Der müsste uns mittlerweile auch kennen!«, rief Sieger.
Sie kamen zu einer Weggabelung und Heikos Onkel hielt sich links. Arbeiten konnte er nur dort, wo es kleine Lichtungen gab, Lichtungen und ebene Flächen. Seine Holzlager hatte er überall im Wald verteilt.
Nicht selten kam es vor, dass findige Hobbykaminer, wie er die Diebe nannte, sich an den Vorräten bedienten. Da war es besser, das Risiko auf mehrere Lager zu verteilen, deren exakte Position Sieger wie einen Schatz geheimhielt.
Kurze Zeit später hielten sie auf einer kleinen Lichtung an.
Sieger holte erst einmal eine Colaflasche raus und legte mehrere Brotscheiben sowie eine Dose ›Bichsawuuurschd‹ auf die Bank, die nicht von Heiko besetzt war.
»So, jetzt vespern wir erst mal«, bestimmte er. Heiko bekräftigte mit einem: »Hm.«
Sieger zog sein Jagdmesser und öffnete die Bichsawuurschd mit gezielten Messerstichen. Hundertmal hatte er das schon gemacht, ach was, tausendmal. Denn Büchsenwurst war sozusagen das hohenlohische Fast-Food. Man konnte sie überallhin mitnehmen. Sie bestand aus einem riesigen Bollen Fleisch, Wurst vielmehr. Am Rand der Dosen sammelte sich immer gallertartiges, durchsichtig-glibberiges Zeug. Aber das störte Onkel Siegfried nie.
Beherzt stach er in die rosa-gräuliche Wurstmasse und schmierte eine ordentliche Portion auf eine der dicken Schwarzbrotscheiben. Er reichte sie Heiko, der sie dankend nahm und sofort herzhaft hineinbiss.
Bei Büchsenwurst war es wichtig, dass man die einzelnen Wurstbestandteile nicht so akribisch untersuchte– denn sonst könnte einem durchaus der Appetit vergehen.
Sah man aber nicht hin, so schmeckte die Büchsenwurst– wenn schon nicht delikat– so doch wenigstens deftig und saftig. Lecker, durchaus lecker.
Nur, wie gesagt. Mit geschlossenen Augen.
Sieger biss nun selbst in sein Wurstbrot.
Stumm kauten die beiden und ließen die Geräusche des Waldes auf sich wirken. Der Eichelhäher hatte sich nun auf einer hohen Buche etwa acht Meter entfernt von ihnen niedergelassen und äugte misstrauisch herüber. Ein schöner Vogel, mit braun-blauem Gefieder und einer extravagant wirkenden Krone auf dem Kopf. Als wäre er der König des Waldes.
So ähnlich fühlten sie sich gerade auch.
Im Wald redeten sie nie besonders viel, denn es war nicht nötig. Es ging nicht darum, irgendwelche Dinge oder Probleme anzusprechen. Der Wald selbst war die Lösung. Er war Erholungsort und Therapiestunde zugleich. Und letztlich was für echte Kerle.
Denn kurze Zeit später dröhnte die Motorsäge durch die morgendliche Stille und die Männer besiegten ihren ersten Baum an diesem Tag.
Lisa öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Hatte es wirklich an der Tür geklingelt? Wer wagte es, sie am Samstagmorgen um diese Zeit, um, Moment, wie spät war es eigentlich?
Na gut, halb zehn, sie um diese Zeit zu stören? Am Samstagmorgen?
Der Postbote vielleicht?
Die Müllabfuhr?
Oder hatte sie das Geräusch nur geträumt?
Es klingelte erneut und wieder riss Lisa die Augen auf. Gut, kein Traum.
Taumelnd erhob sie sich und schlüpfte in ihren Morgenmantel.
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