Okarina: Roman (German Edition)
Stirner sagt, nur das Ich sei das Wirkliche, findet er Gehör bei mir.
Wovon ich nicht hätte reden dürfen, als wir Stalins gedachten, während aus den Lautsprechern an der Allee, die seinen Namen trug, in einer Endlosschleife Unsterbliche Opfer erklang. Wovon ich auch nicht hätte reden wollen. Schorsch Niklas’ Behauptung, wir seien Zeugen einer Abform der Kanonade von Valmy, stieß mich in eine ungekannte Stimmung. Auf die Gefahr, Grund zu dem Geschrei zu geben, von mir sei nichts anderes zu erwarten gewesen: Das Leben unter Abzug von Stalin wollte mir wie die Trauerseiten der Prawda nach Abzug der Stalin-Bilder vorkommen. Der Prawda oder des Neuen Deutschland. Wie Bleiwüste, Verlautbarungswüste. Wüste eben. Eine ohne Lawrence. Meer ohne Ahab. Jenans Höhlen ohne Mao. Stadt ohne Steppenwolf. Steppe ohne Tschapajew. Ein Sechstel der Erde ohne nennenswerte Figur. Nun würden den Stalin-Bildern die seltsam entseelten Porträts aus dem Politbüro folgen, aufgenommen von einem Verdienten Schauhausfotografen, entwickelt in Formaldehyd. Und folgen würde die Führungsriege als Abbild kollektiver Weisheit.
Fraglos fahrlässig, aber ich konnte mit Bulganin und Malenkow nichts anfangen. Mit Chruschtschow schon deshalb nicht, weil er meiner Aufmerksamkeit ganz entgangen war. Mit Berija aus entgegengesetzten Gründen. Das waren Gestalten strikt aus Majakowskis Satire. Wie Stalin eine gänzlich andere Figur von Majakowski gewesen ist. Gerade noch über Molotow ließ sich seines Zwickers wegen reden. Und über Kaganowitsch, von dem das letzte Buch handelte, in dem ich las, bevor man mich einfing. Und über Mikojan, der einen Zug in kaukasische Flottheit hatte. Und wegen seiner felsigen Gelehrtenart über Suslow, dem ich ein Jahrhundert später einen tschechischen Bleistift klaute. Gerade noch diese halbfremden Figuren galten als erwähnenswerte Teile der Führungsgarnitur. Doch taten auch sie gut daran, ihren Auftritt nicht im düsteren Überglanz Stalins zu haben.
Wohl begegnete ich als Junge, ohne groß Anteil an dem historischen Getöse zu nehmen, Zeitungsbildern mit Molotow und Ribbentrop, deren eigentlichen Mittelpunkt der Vorsitzendedes Rates der Volkskommissare der Union der Sowjetrepubliken bildete. Aber eingeprägt hat sich mir Stalins Herrscherhaupt erst in Tagen, da ich Gelegenheit bekam, es alle werstlang zu besichtigen. Weniger um meine Einschüchterung als um die Ermunterung der mir gleichaltrigen, aber anders als ich uniformierten Burschen wird es gegangen sein, als man die Napoleontrasse zwischen Moskau und Berlin mit unzähligen Schildern verzierte, die Stalins Bildnis zeigten und von seinen Worten solche, die zur Großen Vaterländischen Sache beitrugen. Meine Einschüchterung, um ihr den milden Namen zu lassen, war ein den Schildermalern willkommener Nebenertrag. Ich hatte zu tun, heil über die Straßen nach Osten zu kommen, auf denen meine Bezwinger zu tun hatten, heil nach Westen zu kommen. Doch weil sich jegliche Furcht nur erträgt, wenn sie nicht immerfort das Sagen hat, versuchte ich, mich von ihr mit Hilfe der Tafeln und Transparente abzulenken, die mir, vielleicht, damit ich sehe, wie wenig sie mich angingen, den Rücken kehrten. Wodurch sie dreifach gegen mich verschlüsselt waren: Ich sah sie in durchschimmernder Spiegelschrift, ich sah sie in kyrillischen Buchstaben, und ich sah sie in russischen Wörtern, die ich nicht kannte. Hätte ich den dreifachen Code überwunden, wäre der vierte, der in dem nicht für mich bestimmten Sinn der an die Chausseen gemalten Worte bestand, immer noch eine unüberwindliche Sperre gewesen. Oder was hätte ich in der Kolonne anfangen sollen mit dem Bescheid, es gelte, unter der unfehlbaren Leitung des weisen Genossen Stalin die faschistische Bestie in ihrer germanischen Höhle zu erwürgen? Besten Falles hätte mir geahnt, daß mit der germanischen Höhle mein Vaterland einschließlich der Küche meiner Mutter gemeint war und mit der faschistischen Bestie, die es zu würgen galt, ich. Ob nun falsch oder richtig, als Mittel gegen meine Furcht wären diese Lesefrüchte wenig geeignet gewesen.
Wo es um Ablenkung ging, machte es sich einfacher, statt unlesbarer Losungen die bildnerische Ausstattung der Vormarschmagistralen zu betrachten. Nein, nicht betrachten , das ist ein ruhiger Ausdruck, der auf Museumsinseln paßt. Bei der Beschaffenheit der Straßen und meiner Füße, bei der Strengeder Posten und der Schwäche meiner Nebenleute erlaubte sich kaum mehr
Weitere Kostenlose Bücher