Okarina: Roman (German Edition)
mußte.
» Egoland – gar nicht unbegabt«, sagte Niklas, und Flair zeigte an, wie selbstverständlich es sei, daß er sich nicht mit Unbegabten umgebe. Doch fiel ihm sein pädagogischer Auftrag ein, so daß wir zu Stalin hörten, als Wichtigstes an ihm müsse gelten, er habe den anderen Kerl besiegt. Aber natürlich müßten alle es anders sehen, die bei anderer Gelegenheit und auf andere Art besiegt worden seien. Jochen Bantzer zum Beispiel, der im befreiten Jüterbog eingesessen habe, ziehe es in eine Gegend, in der statt eines allzu individuellen Stalin-Bildes das verbindlich gemeine gelte.
Leider hindere ihn sein Status als Parteiloser, parteilich zu widersprechen, sagte mein Professor. Ansonsten beharre er darauf: Dieser Tod bringe mehr als Personenwechsel. Den bringe er schon deshalb zuallerletzt, weil keine Person in Sicht sei, die in die Rolle passe. Nebenbei erkläre sich so die Favorisierung des Kollektivs: Die Menge müsse es bringen. Die Menge bringe es aber auch in diesem Falle nicht. Doch bekomme jeder Turner der Riege Gelegenheit, sich vor den anderen auszuzeichnen. Zuviel sei liegengeblieben; nicht einfach, weil Stalin es nicht wollte, sondern öfter noch, weil jemand für möglich hielt, Stalin könne es nicht mögen wollen. Das sei der eigentliche demokratische Traum: »Ein Regierungsgeschäft, das sich durch Konkurrenz der Minister belebt. Oder durch einen Wettbewerb der Volkskommissare: Was denn, Leute, man hat euch nur eine Sorte Kochtopf gemacht und immer dasselbe Huhn, das in ihm fehlte? Ich schaffe drei Sorten Topf herbei, fürs erste, und fürs erste eine Sorte Huhn, die hin und wieder anwesend ist. Was denn, werte Bäuerchen, ihr wollt zum Kolchosacker ein Äckerchen, auf dem das eine oder andere Körnchen zu eurem individuellen Frommen gedeiht? Geht nur nach Haus und sehet, es wächst euch auf der flachen Hand. Was denn, Genossen Gelehrte, Sie möchten Gründe, warum Sie dies und das nicht kennen, nicht lernen, nicht lehren, nicht haben dürfen? Eine Nichtlyssenkosche Biologie? Was zum Teufel ist das? Einen Soziologischen Realismus? Wiezum Teufel soll das gehen? Eine gewisse Kybernetik? Wie schreibt sich die Teufelei? Eine Psychoanalyse nach Freud? Wer zum Teufel ist dieser Teufel? Einen Reisepaß? Was, großer Gott, hat man sich darunter vorzustellen?
Ja, singt das kollektive Führungsorgan« – so sprach oder sang beinahe mein sonst oder meist unkommunikativer Professor für Kybernetik und Kommunikation und pfiff auf die Blicke, die im Bierdunst am Rosenthaler Platz zu ihm wie zu Flairs und meinem Parteiabzeichen drangen –, »ja, singt die Erbenriege und steigert sich zum Chor, ja, das alles sollt ihr kriegen, doch vorher müßt ihr den Feind besiegen. Nein, sagt ein andersdenkender Teil des leitenden Gremiums, umgekehrt wird daraus ein Schuh, umgekehrt wird für jeden ein Paar Schuhe daraus: Um den allbösen Feind zu besiegen, müssen wir erst diese Sachen kriegen. Wodurch es kommt, ihr jungen Herren, mein alter Freund, daß sich das Kollektiv durch sich selber teilt. Was meines Wissens bei einer beliebigen Größe auf die Summe 1, in Worten eins , hinausläuft. Auf eines ganz sicher: Auf einen allein. Auf einen Einzigen, in dem sich aber, wie alle wissen, der Wille des Volkes versammelt hat.«
Da falle ihm seine Verabredung mit einem allerliebsten Teil des Volkes ein, sagte Ronald und fuhr in seinen Trenchcoat, um den ich ihn stets beneidete. Ich sei zwar erst für den Abend ähnlich engagiert, doch hätten Moeller & Moeller sogar an diesem besonderen Tag einen verbrieften Anspruch auf mich, sagte ich und griff meinen umgefärbten Mantel. Wir legten passendes Geld zu Bantzers Mark, und weder der Große Dramaturg noch der Übergroße Professor machten Anstalt, uns aufzuhalten. Sowenig wie Ronald mich aufhielt oder ich ihn, als wir, ohne Stalin noch einmal zu erwähnen, unserer Wege gingen.
30
Ohne ihn noch einmal zu erwähnen, das stimmt; ohne seiner zu gedenken, das würde nicht stimmen. Als sei dies ein Tag der Endlosschleifen, lief die Rede des Professors wieder undwieder in mir ab. Ich konnte mich mit dem Ausblick, den sie mir machte, nicht befreunden, weil er meinen unguten Erwartungen entsprach. Ich war durch Machtworte verwöhnt und hatte keine Lust auf eine Runde alter Kreml-Männer, die am Tischtuch zwischen sich ein wenig zupften, wo sie es schon nicht zerschneiden konnten.
Ich lief die Weinmeisterstraße hinunter zum Hackeschen Markt und wunderte mich über einen
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