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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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neuartigen Groll: Längst war ich gewöhnt, die Steine in den Städten nicht mehr aufeinander zu sehen und die Häuser nicht Haus an Haus. Längst nahm ich den annähernd heilen Rosenthaler Platz für ein Muster gewesener Welt, in die ich nicht zurückkehren würde. Längst wußte ich, wieviel Mannstunden es dauert, um Geröll zum Plateau zu ebnen. Ich war eingerichtet, Bewohner gewesener Schlachtfelder zu sein.
    Mit Stalin, dem Herrn der zerhauenen Ebenen und Räuber aus den Bergen, der stärker als die anderen Räuber war, ließ sich auf diese Weise hausen. Aber wie sollte es gehen mit dem Sparkassen-Vorstand von Nishni Nowgorod, der Kneifer trug und Bauch im unermeßlichen Hosenbund und Warzen im Bestattergesicht und lächerlichen Zickelbart? Von dieser Sorte besaßen wir selber einen, und manchmal, wenn man ihn sah und hörte, war es schwer, in ihm die Vorhut der proletarischen Klasse auszumachen. Einmal habe ich an der Seite einer Con-Cineastin besonders gelitten und sie besonders gemocht, weil sie zur Kino-Wochenschau, die Augenzeuge hieß, nach seinem Auftritt gar nicht leise befand, die im Westen hätten nicht nur die schönere Landschaft abgekriegt.
    Die Landschaft um den Hackeschen Markt trug dumme Namen wie August-, Gips- oder Steinstraße und konnte, selbst wo sie die verheißenden Schilder Sophienstraße und Neue Promenade und heile Häuser oder gar Häuserzeilen aufzuweisen hatte, von den namengebenden Bausubstanzen bergeweise gut gebrauchen. Doch würde sie davon auf lange nichts sehen. Wie anklagereif es sich auch anhören mag: Mit Stalin hatten sich alle Wunder erledigt. Der wäre imstande gewesen, die Auferstehung der Rochstraße oder den Ausputz der Hackeschen Höfe anzuordnen. Aus einer Laune heraus oder um imZuge seines weltstrategischen Trachtens zu beweisen, daß hinfort der Sozialismus in mehr als einem Lande möglich sei. Jene kollektive Führung aber, welche der Flachheit verdächtig war, die sich an der Untiefe ihrer Fotos zeigte, würde vollauf beschäftigt sein, das Prinzip vom gegenseitigen Vorteil gerade so weit zu dulden, wie für ihren Vorteil nötig.
    Sowenig ich, bei allem Gehorsam, Stalin zugejubelt hatte, was sich vornehmlich auf die polnische Vermittlung zwischen ihm und mir zurückführen ließ, sowenig fiel mir ein, den Mittelwuchs seiner Nachfolger in einen Zusammenhang mit seinem Wüten gegen einstige Gefährten zu bringen. D. h., ich sah den Zusammenhang, doch ließ ich mich nicht von ihm regieren. Weil ich, wir besprachen es, und es sei aussichtslos wiederholt, denselben Klassenkampf zugunsten Stalins geltend machte, auf den er sich gegen seine Opfer berief. Was nicht heißt, mich hätte sein gnadenloses Regiment beglückt, sondern bedeutet, daß ich es als unabdingbaren Teil des gnadenlosen Klassenkriegs auffaßte.
    Entgegen allen Voraussagen, an denen sich Fremde und Freunde ein Jahrdutzend lang beteiligten, so daß es, als ich einen Karabiner trug, zum Hauptding meines Glaubens geworden war, ließ mich der furchtbare Mann nicht töten, sondern hinderte mich zu töten, hieß mich leben, ließ mich hungern, aber nicht verhungern, ließ mich wahrlich nicht mästen, aber nach Mindestmaß füttern, ließ meine Wunden nicht bis in mein Verrecken faulen, sondern gab den Feldschern, die meist Feldscherinnen waren, feldherrlichen Befehl, von meiner Haut zu retten, was zu retten war.
    Kann sein, er tat es, um mich zu täuschen, weil er Absichten mit mir hatte. Kann sein, er tat es aus Eigennutz, aber zugleich war der Nutzen meiner. Kann sein, er versprach sich, ich werde sein Fürsprech werden; das spräche von Weitblick, da ich es geworden bin. Gewesen bin. Nein, nicht geblieben, aber gewesen bin ich es. Das ging, wenn man nicht alles wußte. Oder nicht alles wissen wollte. Und an Hauptsachen dachte. Oder in einigen wichtigen Sachen dachte: Hauptsache wir. Hauptsache nicht die anderen. Hauptsache nicht das andere wieder.
    Mit dem Pathos, das sich an Begräbnistagen erlaubt, und auch, weil ein Hauptpunkt benannt werden will, an den ich mich ebenso sentimental wie banal seit dem Aufenthalt in der Gęsiówka gehalten habe: Für mich galt in die Fahne eingeschrieben, der ich seit Warschau folgte und von der ich ernsthaft meinte, Stalin folge ihr wie ich, was ich aus einem Halbgespräch zwischen dem einmal unbedachten Berliner und dem wie immer unberedten Buchenwalder erfuhr. Gegen seine Art verließ unser Linienzieher seine Antifa-Linie, die deckungsgleich mit der Nationalen Front

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