Okarina: Roman (German Edition)
als ein scheuer Blick zurück zu des Gegners Ober-Kriegsherrn, der, weil als einziger in Wort und Bild am Wege aufgerichtet, der einzige zu sein schien, der die richtigen Wege wußte. So verstohlen ich hinsah, sobald ich Richtung Moskau an ihm vorbei war, so genau besah ich doch den führenden Mann, der – mir bei meiner Annäherung den herrschenden Rücken zukehrend und seine mahnenden Augen auf seinen aus Moskau eintreffenden Gehilfen ruhen lassend – ungezählt oft von Künstlerhand gefertigt im polnischen Winterwind hing. Natürlich betraf ich mich bei dem Gedanken, er sehe weniger bedrohlich aus, als ich erwartet hatte, aber dann sagte ich mir und war der Ablenkung froh wie der Einsicht unfroh, daß mir entweder meine Hoffnung den überlebensgroßen Marschall bei dieser Milde malte oder ihm aus militärkünstlerischen Gründen der väterliche Blick mitgegeben worden sei, der ja nicht mir, sondern den meinetwegen aus Moskau und Umgebung aufgebrochenen Würgeengeln galt.
Was aber, wie ich Flair, Niklas, Ronald und dem unvermeidlichen Bantzer in der Eckkneipe am Rosenthaler Platz mitteilte, wohin wir nach dem Abschied von Stalin über die Stalinallee, den Alexanderplatz und die Rosenthaler Straße gewandert waren, am Tatbestand nichts änderte, daß der Generalissimus mir gegenüber jene Milde hatte walten lassen, die ich von den Bildern an den Chausseen ablas, über die sich seine Soldaten hastig gegen Berlin bewegten, während ich von ihren Kameraden behutsam Richtung Warschau geleitet wurde.
Der Zufall wolle es, sagte Gabriel Flair, daß etliche am Tisch solch eine für den dahingesunkenen Völkerführer günstige Optik geltend machen könnten. Den Drucker habe er entgegen dessen gerechtfertigten Ängsten nicht totschlagen lassen, den Vater des Kutschers sowie Professor Niklas und ihn selber durch seine Soldaten aus Hitlers Lagern geholt, ohne sie gleich in seine zu sperren, und sogar Herr Bantzer, ehedem Jüterbog und jetzt Westberlin, könne vermutlich sagen, wie bekömmlich ihm der Schustersohn aus Gori bei Gelegenheit gewesen sei. Das, wenn die untraurigen Gäste ringsum wüßten, würde die Wirtshausstimmung kaum heben.
»Also über Tote nichts Schlechtes? « sagte Schorsch Niklas.
»Heute vielleicht«, sagte Gabriel Flair.
Ich dachte, jetzt könne Ronald sein Problem mit der Ausnahme, welche die Regel bestätigt, zur Sprache bringen, hütete mich jedoch, es in seiner Vertretung zu tun. Bei dem, was ihn betraf, führte der Kutscher gern selber die Zügel. Überdies wollten Flair und Niklas ein Thema, das sie aufgeworfen hatten, halbwegs abgearbeitet sehen. Oder doch zu einem Hundertstel.
Das Thema, das von den beiden, die uns durch ihre Lagerzeit als viel Ältere galten, vorgegeben war, lautete: Die Verkehrung der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, wie sie sich ergibt, wenn man Geschichte zu persönlich nimmt – abgehandelt an der Rolle J. W. Stalins in persönlichen Geschichten. Ich hatte meines gesagt, und die anderen setzten ihres mehr oder minder lustlos hinzu, da es bei allen Unterschieden vierfach auf eine Befreiung hinauslief, die sich mit des Hauptmarschalls Namen verband.
Ausgerechnet Bantzer sprach aus, was unsere Berichte zu einem machte. Er habe soeben vier Grabreden gehört, die den in Jüterbog und Lichterfelde üblichen glichen, als sie den jeweils teuren Toten sämtliche guten Haare ließen. Was zwar – die lateinischen Herren hätten es angedeutet – bei Nachrufen auf Hinz und Kunz schicklich sei, beim Gedenken an Stalin aber fehl am Platz. Warum wir nicht gleich jede Krankheit priesen, von der wir selber nicht ereilt worden seien. Warum wir nicht sagten: Immer das Gerede vom unvermeidlichen Tod – wir leben doch! Er habe Lust, die versammelten Ostbewohner zu fragen, ja, er, der nach Egoland Verzogene habe diese Lust, ob nicht höchstkonzentrierter Egozentrismus vorliege, wenn von vier Befragten viere sagten, ihnen persönlich sei der Tote in persönlicher Hinsicht ein teurer Toter gewesen. Obwohl …, aber nein, das sagten sie eben nicht.
Auch Bantzer sagte nicht, was wir nach seiner Ansicht hätten sagen müssen. Vielmehr legte er eine Westmark, die sein Ostbier großzügig abdeckte, auf den Tisch, verbeugte sich vor Dramaturg und Professor, nickte Ronald und mir zu und schritt zum Rosenthaler Platz hinaus, von dem er, um in denWesten zu gelangen, nur tausend Schritte die Brunnenstraße hinauf tun oder zur nächsten U-Bahn-Station an der Bernauer Straße reisen
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