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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Norma-Enorma nach meiner Erinnerung an der Bretterwand einen Dreizeiler hauchte, der My, aren’t you a skinny one! / My, in an almost Californian sun! / My, aren’t you a funny one! gelautet habe.
    »Ist ja gut«, sagte Ronald, als er den behördeneigenen Wagen an der U-Bahn-Treppe stoppte, um mich aussteigen zu lassen.
    Ich klopfte auf das Lenkrad, sagte: »Guter Kadett!«, klopfte dem Lenker auf die Schulter, sagte: »Guter Steuermann!« undüberlegte, ob ich mich an Normas bzw. Marilyns Gang versuchen solle. Ich unterließ es dann; es wäre von Lichtenbergs U-Bahn-Passagieren nur gründlich mißverstanden worden.

29
    Erst wegen Stalins Tod kam es dazu, daß Gabriel Flair, Ronald Slickmann und ich uns trafen. Als drei von dreihunderttausend Parteimitgliedern an der Stalin-Statue gegenüber der Sporthalle an der Stalin-Allee. Gabriel Flair hatte unser Rendezvous am Telefon zum Dreierzellentreff ernannt, aber dann stieß, wie es ähnlich bei solchen Zusammenkünften passiert, der Große Dramaturg auf seinen Pritschenkumpel Schorsch, der mein Professor und parteilos war. Er behauptete, er sei wegen Prokofjews Tod auf der Straße, doch Flair holte ihn an unsere Seite. Gleich darauf fand sich, was mit ihm weniger selten geschah, Jochen Bantzer ein. Ihn zu verjagen, gab es keinen Grund, nur ermahnte Ronald ihn, uns mit Kommuniqués, die von Treffen zwischen J. Bantzer und J. W. Stalin handelten, schonlichst zu verschonen.
    »Ja, so reden die«, sagte Flair zu Niklas, »und schonlichst ist noch von schonlichster Art.« – Der Professor zog eine Miene, als verstehe er im entferntesten nicht, wie er mich zu seinem Fernstudenten habe machen können. Neu und wichtiger war, daß er sich mir dabei zuwandte. Auch Ronald wurde direkt in Augenschein genommen, und an Jochen Bantzer roch Niklas beinahe, ehe er sagte: »Sie sind aus Westberlin.«
    »Ja«, antwortete Bantzer und traf halbwegs die Wahrheit.
    »Die U-Bahn, die Chesterfields und ein Hauch Erdal«, sprach der Professor. »Wer was im Schilde führt, sollte sich lüften!«
    Der Hauch von Erdal schien mir zu stark, aber das Ziel der Niklasschen Verstörung, wie ich diese Ausfälle nach leidvoller Bekanntschaft mit ihnen nannte, war erreicht: Der arme Mensch aus Jüterbog errötete so sehr, daß sich sogar Ronald seiner erbarmte. Der Jochen sei in Ordnung, sagte er und brachte eine Menge Autorität darin unter.
    Zwar fragte ein Blick des Professors nach Ronalds Urteilsfähigkeit, aber das Examen schien beendet. »Von hier und heute, meine Herren«, sagte Niklas, der Flairs Pritschenkumpel gewesen und mir ein aufregender Lehrer war, und wies zum bronzenen Stalin hinüber, der im Gewoge aus Fahnen und Transparenten ab und an sichtbar wurde, »geht eine neue Epoche und so weiter, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.«
    »Fragt sich, ob sie es dürfen. Wie man es kennt, ist Kontinuität das Gebot der Stunde«, sagte Flair.
    »Kollektivität wohl auch. Kontinuität wird in solchen Stunden immer zum ersten Gebot erklärt«, sagte Niklas und machte mich staunen: Immer in solchen Stunden! Als ob sie zuhauf geschähen. Als ob wir nicht bis eben die Stalinsche Epoche geschrieben hatten, und welche schrieben wir nun? Als ob nicht noch gestern die Frage, was oder gar wer nach Stalin komme, eine so ungefragte, weil unfragbare Frage gewesen war, daß sich nun umso hilfloser fragte, wer oder was nunmehr komme. Als ob nicht schon der Gedanke an Kontinuität sakrilegisch heißen mußte. Weil man nach Stalin nicht einfach sagen konnte: Fortsetzung folgt.
    Man konnte es nicht; ich schon gar nicht. Aus den allgemeinen Gründen und aus meinem speziellen Grund. Weil ich im Unterschied zu Jochen Bantzer die Wahrheit spräche, wenn ich von einem Treffen mit Stalin spräche. Und weil eine Lage wie die, in der wir uns befanden, so bantzerisch es sich auch ausnehmen mußte, Stalins Motiv für sein Gespräch mit mir hergeliehen hatte: Ein Gefäß solle ich sein, hatte er überm Tee gesagt, eines, in dem sich die Idee bewahre. Lächeln wolle er können über alle, die meinten, mit seinem Leib und seiner Seele werde auch sein Geist vergehen. Solche wie ich sollten Antwort auf die Frage geben, wieviel Divisionen nach seinem Hinscheiden verblieben. Danach hatte der Generalissimus, als sei es der Rätsel nicht genug, die Okarina an seine schnauzerverhangenen Lippen geführt und war hinausgegangen. Und meiner hatten sich wieder die Wächter angenommen.
    Eine Geschichte, die man besser für sich

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