Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
Vom Netzwerk:
verlief, und erinnerte an etwas, das einmal in der Roten Fahne gestanden habe: Ein Kommunist sei, sagte dieser Kommunist, unter allen Umständen verpflichtet, den Juden als den Bedrängtesten von allen beizustehen.
    Der Buchenwalder sah störrisch in sich hinein und antwortete: »Nö! Die Bedrängtesten nich. Uns hamse zuerst gehaun.«
    »Schon wahr«, sagte der Berliner, »aber da ist ein Unterschied: Du kannst jederzeit aufhören, Kommunist zu sein.«
    Der Buchenwalder bedachte das und antwortete: »Nö!«
    Der Berliner sah ihn an und sagte: »Ja, du wohl nicht.«
    Ich habe das unerlaubte, das gloriose Gespräch in allen seinen Teilen gern gehört, es hat mich in die Partei der beiden geholt; ich weiß aber längst, daß längst nicht alle unter der roten Fahne die Rote Fahne gelesen oder sich an sie gehalten haben. Nur machte, wie ich es sah, der Exodus aus den Abwandernden sowenig Gerechte, wie er jene, die meine Republik verließen, zu Gerechten machte. Ich wertete auch das als Teil der unvermeidlichen Frage Wer wen.
    Dennoch, so sehr mir der ungarische Herbst, der tschechische August und jener Parteitag, der diesen vulkanischen Ausbrüchen voranging, alle Unversehrtheit und alle Unschuld nahmen, hatte der eigentliche Riß begonnen, wo ein Vergehen gegen die Partei den Zusatz jüdisch erfuhr. In aller Oberflächlichkeit: Es erinnerte an infame Einträge und klang aus einer Untiefe hergeholt. Wie konnte das Wort in eine Anklagerede meiner Partei geraten? Was hatte Abweichung mit Herkunft zu tun? Was eine Tat mit des Täters Namen?
    Ich habe nicht gezählt, wie oft ich gefragt wurde, warum ich bei der Sache blieb, ihr nicht einfach anhing, sondern ihr, wo nötig, voranging. Ich zähle auch weiterhin die Antwort nicht; sie ist gegeben. In hohem Ton: Weil ich die Sache nicht mit dem Makel verwechselte und meinte, ich könne jene von diesem befreien. Leiser Zusatz, nicht für jeden bestimmt: Und weil ich eine andere Sache weder sah noch sehe.
    Wenn ich reinen Herzens vom reinen Tisch mit den Bedrängern sang, dann dachte ich, schon weil ich das Lied im eingestampften Ghetto erlernte, an die polnischen Juden in der polnischen Stadt und bedachte nicht, daß diese Stadt auch für Juden aus Berlin ein Umschlagplatz ins Gas gewesen war. Der zweite auf ihrem Weg. Der erste ihrer Reise aus der beschränktesten Freiheit in die unbeschränkte Gefangenschaft hatte gleich hinterm Hackeschen Markt gelegen. In der Großen Hamburger Straße. Was ich aber, der ich beim Kindheitswort Hamburg das Alstereis und die Lombardsbrücke sah, einfach nicht ahnte, als ich mich nach den Umbögen über Stalinallee, Rosenthaler Platz und Hackeschen Markt auf dem Weg zu Moeller & Moeller befand.
    Wenn ich denke, was alles ich nicht wußte, regt es mich auf. Bis ich bedenke, was alles ich nicht weiß. Das beruhigt, da du es in Teilen, doch nicht in der Summe ändern kannst. Es beruhigt wie der Gedanke, daß die Horizonte mit dir wandern. Ob ich aus dieser Einsicht bereit gewesen war, bei Schorsch Niklas in die Fernlehre einzutreten, ist so unklar wie klar ist, daß ich seit seinem Vonhierundheute nicht nur auf das eine Signal aus Stalins Zeiten, sondern auch auf Signale wartete, die eine nachstalinsche Zeit anzeigten.
    Was nicht besagt, ich hätte sie willkommen heißen wollen; was nur heißt, ich habe sie erwartet. Die Niklassche Verstörung hatte wieder statt. Der Mann ist der sparsamste im Umgang mit Zeichen gewesen, aber er fand ihnen Plätze, auf denen sie sich nicht übersehen ließen. Als wir angewiesen wurden, den Antizionismus nicht für Antisemitismus zu halten, machte sich Niklas so am Wort Judenstern und an der Frage zu schaffen, ob es durch Zionsstern zu ersetzen sei, daß ich ihn wissen ließ, ich habe verstanden.
    Von solcher Bekundung rate er ab, sagte er, weil sie Lehrpersonen reize, ihrem Lehrling das Gegenteil zu beweisen. Dann trug er mir auf, eine Liste der Schmach- und Ehrenzeichen anzulegen, mit denen der deutsche Mensch in den letzen zwanzig Jahren für Unverwechselbarkeit gesorgt habe. Eine Zuordnung der Signale in die Abteilungen Schmach oder Ehre erließ er mir und war es zufrieden, daß ich zwar über Tressen, Medaillen, Ostarbeiter-Aufnähern und Blindenbinden weder erzwungene noch bezahlte Tätowierungen noch den Ehering vergaß, aber die roten und rosa und andersfarbenen Winkel seiner Pritschenwelt nicht aufgeführt hatte. Nur knapp unterblieb meine Frage, welchen er getragen habe. Er und andererseits sein Kamerad

Weitere Kostenlose Bücher