Okarina: Roman (German Edition)
von nun an immer entweder das Leben anderer oder das eigene gelten, sagten sie, und sie sähen nicht, was ich dagegen machen könne. Möglich, sagten sie, es habe eine Zeit gegeben, in der sich etwas machen ließ, aber diese Zeit sei nicht mehr. Jetzt schieße man andere tot oder werde totgeschossen. Sie wüßten, sie hätten Auftrag, mir Rat zu geben, aber sie wüßten keinen. Wenn ich nicht gehe, hole man mich. Wenn ich mich verstecke, suche und finde man mich. Oder wo wolle ich mich verstecken? Habe mich, solange es Spiel war, in Haus, Stall oder Garten einmal einer nicht gefunden? Und könne ich mir denken, wie man mich suchte, wenn es kein Spiel wäre? Mit der Gabel im Heu, dem Bajonett unterm Bett und dem Hund in der Laube? Oder sehe ich mich im Wurzelwerk bei den Tieren des Waldes? Plane ich, mich von diesen Tieren und diesen Wurzeln zu ernähren? Auf wie lange veranschlage ich meine so gesicherte Abwesenheit? Wisse ich, wer ab der Zeit, da ich den Behörden fehle, diesen als Pfand zu dienen habe? Auch sei nicht, ob ich laufen wolle, die Frage, sondern wohin. Nach Osten, wo mich keiner vermute? Nach Süden, wo es bis zur Adria eine Weile preußisch bleibe? Was werde ich meinem Magen sagen, wenn der schreie, er sei achtzehn und habe ein Recht? Was dem nächstbesten Gendarmen, den meine nordischen Züge anzögen? Was dem Schaffner, dem mein Marschpapier nicht zur Fahrtrichtung stimmte?Was der Volksgenossin, die, da Volksgenossin, keinen weiteren Grund benötigte? – ›Junge‹, so sprachen Vater und Mutter zu mir, ›weil wir dich behalten wollen, mußt du gehen.‹
Weil ich sie und mich behalten wollte, ging ich, und alles zeigte sich in den bekannten Zusammenhängen. Ich bekam mein Gewehr plus eilige Fingerzeige, auf wen ich es zu richten habe. Desselben Winters noch wechselten Besitzverhältnisse wie Flintenmarken. Meine Richtung wies man mir fortan mit Fäusten. Und als der Sommer kam, hatte ich kaum mehr zu tun als auf Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu warten. Mein Magen war immer noch achtzehn, aber man hörte sein Schreien nicht im Geschrei von zehntausend Mägen. Ich hörte es und konnte nur beschwichtigend knurren: Ich habe doch selber nichts, mein Guter! Selten war ich der Wahrheit näher als in den sommerundwinterlangen Augenblicken, da ich meinem Magen beteuerte, liebend gern stopfte ich ihn mit allem voll, was auf dieser Erde zu diesem Zwecke wachse und gedeihe. Aber er hörte mich nicht und schrie. Ich dagegen hütete mich vor jedem Schrei. Tagsüber lag ich stumm im Sand, nachtsüber stumm auf der Pritsche. Sprechen war Verbrauch, Streit schon Verbrechen; von grauen Augen zu träumen, fehlte die Kraft; fast fehlte sie zum Denken. Im zertretenen Gras hörte ich die Käfer wandern, im hölzernen Verschlag ihre stinkenden Vettern. Von meinen stinkenden Vettern vernahm ich vor allem anhaltendes Stöhnen. Wir stanken, weil das Wasser sommers wie winters knapp war. Vielleicht wegen der Suppen. Nicht daß die sich im Unmaß über uns ergossen, doch bemaß sich ihr flüssiger Teil weit höher als der flüchtig feste Rest. So daß wir zu Resten verkamen. Zu Schemen unserer selbst. Zu wesenlosen Trugbildern also. Zu Schemata zugleich, vereinfacht anschaulichen Darstellungen dessen, was mit uns gemeint war. Eine belebte Maschine, deren Zweck vornehmlich Selbstzweck ist. Mit, der Käfer wegen, geschorenem Schädel, so daß der bloße Kopf nicht als bloßer Hirntopf, sondern pfiffig verschientes Geschirr erkennbar wird. Mit, der Käfer wegen, geschorenem Oberkörper, in dessen Achselhöhlen nur grieser Grind noch wohnt. Mit, der Käfer wegen, geschorenem Unterleib, in dem statt des Trutgockels ein welker Puterhalsnistet. Kampfhahn geschrumpft zu bläulich blutleerem Kleingeflügel, nur wenig belebter als die gerupften Fetzen Gänsehaut, die beim Schlachtermeister Schmalhans manchmal an den Haken hingen. Manchmal. Was aber, verehrte Angehörige, als Bild zu nahe an verbotenen Bildern ist. Wie leicht denkt sich, liegt man am Bauche bleich von Sanitätskalk, am Arsche blau von erstaunlich verbliebenem Gewicht, im Magen gänzlich unbeschwert, am Gaumen längst unverwöhnt, wie leicht ersinnt sich ein Feuerchen unter die kachelkahlen Hühnerhintern, ein Töpfchen und eine Brühe um sie herum. Und wie leicht kommt, wer so erfindet, von Sinnen. Und von Verstand. Wo gerade dieser in solchen Nöten nötig ist. Was hülfe es, wenn wir den Schatten auf der Sonnenuhr sähen, aber nicht zu lesen vermöchten, wie
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