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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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oder wenigstens zwei von ihnen meinten, es sei nur auf Zeit. Ich bin mir wer weiß wie vorgekommen, als ich den beiden erzählte, es gehöre zur umsichtigeren Art des Verreisens, daß man alle Güter, die man nie und nimmer verlieren wolle, in ein besonderes Gelaß einschließe, das die besondere Bezeichnung Container trage. »Dann«, sagte ich und merkte, was für ein sentimentales Arschloch ich war, »fährt man auf Stippvisite nach Cambridge an der Cam und sitzt eine Weile im leeren Zimmer, Schuh und Strümpfe sind zerrissen, durch die Hose pfeift der Wind, und es wäre nicht gut, wenn jetzt einer fragte, wie es in der Fremde geht. Doch einmal heißt es, der Container ist da, und eure Mutter will wissen, wer ihr beim Auspacken hilft. Was folgt, könnt ihr euch unter dem Namen Wiedervereinigung merken. Wie habt ihr es nur all die vielen Tage aushalten können ohne, ja was denn, ohne das geliebte Puppentheater oder …«
    »Das geliebte Puppentheater, wie du den Plunder neuerdings nennst, ist beim letzten Umzug in den Sperrmüll gekommen«, sagt Jennifer, und sie fände es gut, wenn ich nun nicht weiter störe. Wie ich noch nach einer Antwort suche, setzt sie hinzu: »Wenn du dich nur früher gekümmert hättest!«Ehe sie mir sagt, worum ich mich statt dessen gekümmert habe, gehe ich aus dem Zimmer, in dem sie mit den Kindern und dem Container beschäftigt ist.
    Aber auch hier liegt Zeitraffen vor. Meine Art des Raffens, bei der sich Zwischenräume verlieren und Nennenswertes umso größer ins Bild kommt. Jennifer ist nicht unverhofft im Sinne von unerwartet gegangen. Es kam dahin mit ihr; man hat es kommen sehen. Als Östliches in Westliches eingetaucht war und das Gebot erging, alle Welt müsse sich nach dem Einheits-Reinheits-Gebot evaluieren lassen, mußte sie ihr Vorleben nicht fürchten. Außer einem falschen Mann lag nichts vor gegen sie. Dafür hat der mehrere Male gegen sie vorgelegen. In den Papieren, aus denen sie die eine profilbedingte Kündigung und die andere Ablehnung erfuhr, tauchte er nie auf; man hatte doch keine Siewissenschon. Zugegen, wo über sie entschieden wurde, war er immer.
    Anfangs besprachen wir die Vorfälle und hatten es insofern nicht schwer, als es unter den neuen Verhältnissen bei meinem alten Schuldsein geblieben war. Ich hatte das eine Regime nicht geändert, ich konnte das andere nicht ändern; wo sie hinsah, stieß sie auf mich. Schlimmer wurde es, als die Kinder den Kommunikationskerl aus der Schule mitbrachten und wissen wollten, was ein Oberbonze sei. Und wieso wir zur Nummernklautour gehörten. Und warum ich – und wie, mit dem Stock oder wie? – den Biermann vertrieben habe. Wobei Biermann wie Milchmann oder Kohlenmann klang, wodurch die verständnislose Erkundigung noch verständlicher wurde. Wenn ich alle Gerechtigkeit zusammenkratze, sehe ich: Im Grunde hat Jennifer Król es lange ausgehalten.
    Wie anders als in Marxens Zeiten es heute zugeht, weiß ich genauer, seit an einem Sonnabend mit einer Farce begann, was danach, pardon, in die Nähe der Tragödie geriet. Da hießen wir noch DDR, und der Winter wollte im Unterschied zu etlichen vor ihm Winter nicht nur heißen. Aus Gründen, die ich nicht mehr weiß, war ich allein zu Haus und mußte allein bestaunen, daß der See vor meinem Fenster still und starr wie im Liede lag.
    Nicht ganz so starr, zeigte sich. Nicht ganz so still, wie ich bemerkte, als ich mich wieder an die Arbeit an einem Signalkram-Büchleinmachte. Weil die Prüfung, der Niklas mich vor hundert Jahren unterzog, nicht ohne allen guten Fortgang geblieben war, hielt ich mich beim Schreiben an sie. Ich wollte gerade meinen inneren Blick auf die Straßenschilder, Klingelknöpfe und Uniformen richten, mit denen mein verstohlenes Studium begonnen hatte, als äußere Bewegung meine Aufmerksamkeit erregte. Rechts am Bildrand, den der Fensterrahmen abgab, rührte sich etwas, das mir bei erster Ausschau entgangen war. Eine Möwe schlug mit den Flügeln, die, anders als ihre Krallen, nicht ins Eis gefroren waren. Keine Ahnung, wie lange das arme Vieh schon in der Falle saß; keine Ahnung, wie lange noch. Fest stand nur, ich konnte ihm kaum helfen. Kaum oder nicht? Kaum ist nicht nicht. Kaum läßt einen Rest für Prüfung.
    Also setzte ich die Mütze auf, zog mich warm an, stieg in feste Stiefel und stiefelte über den verkommenen Rasen an den Seerand, wo eine Möwe im Eis meiner harrte. An diesem Gedanken, vor allem an seiner Form merkte ich, daß ich die

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