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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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eine Junge den Auftrag bezüglich des anderen Jungen erledigt hatte, sah ich, als dieser nicht aus dem Strauchwerk trat und jener zu uns aufschloß. Wobei er sein Messer über die schneeigen Zweige führte, ehe er es zurück in die Scheide stieß. Nein, nicht stieß, er tat es zurück an seinen Platz und sich zu uns in die Reihe.«
    Pardon, ich verlor mich an diese Geschichte. An eine dieser Geschichten. Eine, die mich erklärt. Die mir verständlich macht, warum ich manchmal einseitig bin. Warum ich zum Beispiel unentgeistert und unempört ein Ausstellungsschild lese, auf dem Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 geschrieben steht. Bis auf die differenzierenden Jahreszahlen ganz undifferenzierend Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 . Als ob nicht bekannt wäre, daß man differenzieren muß. Schon, weil ich dabei war. Bei der Wehrmacht, nicht bei ihren Verbrechen. Es lebe der Unterschied; ich lebe durch ihn. Allerdings, bei einem der Verbrechen war ich, siehe oben, dabei. Aber, Triumph, Triumph, nicht 1941 und nicht 1944, wie das Ausstellungsschild Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 so angenehm präzise beziffert, sondern im Januar des Jahres 1945. Was mich, sollte dieser Zeitraum als schuldfreier Raum gelten, hört doch, ihr lieben Vettern, aus dem Zusammenhang mit der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 risse. Und mich damit von nicht unerheblicher Last befreite. Zumal ich ohnehin nicht Verbrecher, sondern Zeugedes fraglichen Ereignisses war. Ein deutscher Hansel im großen Glück, nur Zeuge gewesen zu sein, wo er, wo ich Verbrecher hätte werden können. Ja, liebe Vettern, ja, liebe Brüder, ja, liebe Frauen, ein Feldwebelwort an mich statt an meinen Nebenmann, und ich wäre umwegslos, auswegslos vom Ausstellungsschild Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 gemeint gewesen. Was zudem wenig, ja kaum etwas verschlägt, da ich mich – hier kommt es schwierig, verehrte Cousins, geliebte Cousinen –, auch ohne das an mir vorbei gesprochene Feldwebelwort mit dem Ausstellungsschild Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 gemeint weiß. Ich reiße mich keineswegs um diesen Zusammenhang, doch kann ich mich ihm nicht entreißen. Ich könnte auf eine Furcht verweisen, die ich als Zeuge des Furchtbaren empfand. Aber ich kann nicht sagen: In Angst war’n mir die Augen blind. Oder: Nicht hingesehen macht ungeschehen! Zumal ich hinsah und schneidend weiß, hätte sich der Feldwebel statt für den Erprobten für meine Erprobung entschieden, müßte ich die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 trotz ihrer Datumsgrenze als mir, ganz mir persönlich gewidmet empfinden. Was ich auf meine unglaublich anmaßende Weise ohnehin tue.

39
    Wer die Zeitgeschichte kennt, hat erkannt, daß ich hier zeitraffend vorgegangen bin. Zwischen dem Berliner Abbiß von Friedrich Moeller und Jennifer Króls Abreise aus Berlin oder gar dem Abbruch der Ausstellung, deren Bilder nicht alle den richtigen Mördern zugeordnet waren, liegt ein Jahrzehnt. Einige Gräber liegen auch dazwischen. Das meiner Mutter in Marne, in Berlin die der Moellers, in Friedrichsfelde das von Gabriel Flair. Man kam aus dem schwarzen Zeug nicht mehr raus. Zu dem wenigen, was ich noch lernte, zählt das richtige Bemessen beim Griff in den Sand. Willst du wissen, wie du aussiehst, geh wen begraben.
    Dazu diese anderen Tode: Der gute S., die liebe B. und einige noch rufen nicht mehr an; du nennst es, ganz nach gängigen Mustern, Verrat durch Unterlassen und siehst nicht, wieso du sie anrufen solltest. Dein Lebtag bist du ins Kino gelaufen; nun läufst du nicht mehr ins Kino. Vor jeden Erwerb schiebt sich die Frage: Wozu noch? Warum die Hütte voll Erbstücke kramen? Neuerdings räume ich auf, damit es dann hier nicht so aussieht. Manchmal mahne ich mich zur Ordnung, weil Jennifer so unverhofft kommen könnte, wie sie gegangen ist. Wenn ich wieder weiß, daß sie nicht kommen wird, passiert es, der Ordnung wegen, die ja dann nicht sein muß, daß mir Jennifer nicht mehr so fehlt.
    Wer hat von wem gesagt, er sei ein sentimentales Arschloch? Flair von Niklas? Nein, Flair von Zimmetsberger. Ich habe den nicht in dieser Fassung gekannt; ich habe ihn ja auch nicht auf der Pritsche von Sachsenhausen gekannt. Aber mir sentimental bin ich begegnet. Das war, als sich vier Fünftel der Familie ans Packen machten und drei

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