Okarina: Roman (German Edition)
Klasse gesprochen, und noch vor Stalin habe Lenin die Partei als Vorhut der Klasse bezeichnet.
Ich sah ihm an, Stalin wäre ihm lieber gewesen, aber über Lenin ließ sich reden. Stalin war zwar vom Denkmal der Reiter auf dem Pferd, doch galt Lenin als Sockel. Lenin ging auch. Er griff meinen Koffer und sagte: »Da sieht man, daß uns Genosse Strickland den richtigen Lehrer für Parteigeschichte gefunden hat.«
Hier hätte ich ihm meinen Koffer entreißen und fortlaufen sollen aus der Gründervilla und all ihren Kammern. Oder durch einen schlichten Bescheid sorgen können, daß mirHerrschaftshäuser, in denen Schulen eingerichtet waren und Zimmer für mich allein, nie mehr offenstünden. Durch den Bescheid zum Beispiel, bei diskreter Gelegenheit habe mir Stalin Tee gereicht und mit der Okarina aufgespielt. – Aber da standen wir schon in einem Zimmerchen, das Bett roch nach frischem Bezug, Waschgelegenheit war da, es gab zwei Stühle mit einem passenden Tisch, und im Bücherregal fand sich gerade noch Platz für Liebknechts Fremdwörterbuch und Bleibtreus Literaturgeschichte.
Was folgte, war ein ungleicher Kampf: Jüngste Vergangenheit gegen unmittelbare Gegenwart. Vier Jahre meist im Verschlag mit hundert Männern, nun eine Mädchenkammer für mich als einzigen Mann. Federkern gegen Pritschenbretter. Zwei Stühle pro Kopf gegen acht Schemel auf hundert Hintern. Wasserhahn plus zugehöriges Becken und nicht nur Rinnsale, die sich wie Tropfen verteilten. Ein Tisch für mich, eine Lampe für mich, Bücher für mich, ein Raum für mich, ich ganz für mich, da mußte ich gegen mich gar bald gewinnen.
»Trinkst du lieber dänischen Aquavit oder sibiriän Schnäps?« fragte ich den Leiter, der in der Herberge nichts weiter als deren Verwaltungsvater war. Er trank beide gern, und ich habe ihm von beiden gegeben. »Dann auf die Parteigeschichte!« sagte ich, und wenn man die auch nicht den Kern aller Geschichte nennen konnte, ist sie doch einer der Anfänge meiner Geschichte in der Partei gewesen.
Ein Anfang, dem das Ende eingeboren war, also ganz nach Art des Lebens. Auch die Schule in Hohenschönhausen hielt sich an ältere, wenngleich nicht uralte Regeln. Ähnlich wie die Anstalt in Warschau, in deren Diensten ich auf gleich angemaßte Weise gestanden hatte, fragte sie nicht, durch welchen Berliner Trichter die Wissenschaft in meinen Kopf gelangte, die mir alltäglich flott vom Munde ging. Hauptsache, ich breitete den Stoff so aus, als habe ich ihn nicht nur zugunsten meiner Schüler Bahn für Bahn zu gefälligen Mustern verknüpft, sondern unter persönlichem Einsatz und mit wägendem Forscherblick den historischen Läuften abgewonnen.
Da fügte es sich angenehm, daß die Meinung des Verwaltungsleiters insofern in der Nähe der Ansichten des wirklichenLeiters lag, als dieser mir den Auftrag, er sprach von Lehrauftrag, erteilte, meinen Darlegungen zur Parteigeschichte eine Analyse der Bismarckschen Sozialistengesetze voranzustellen. Weil es nicht schaden könne, die Schüler von Anbeginn ahnen zu lassen, mit welcherart Bismarckschläue sie seitens ihrer Bekämpfer zu rechnen hätten.
Es verband sich die Ansicht des wirklichen Leiters in Hohenschönhausen glücklich mit dem Umstand, daß der wirkliche Leiter meiner Schule in Warschau ähnlich gedacht hatte, wenngleich er sich wegen dessen derzeitiger Unangebrachtheit merklich hütete, den Gesichtspunkt der Parteigeschichte nach vorn zu stellen. Er stellte den der Menschheitsgeschichte nach vorn und innerhalb derer den Gesichtspunkt der Klassenkämpfe und innerhalb dieser die Sozialistengesetze. Und mir stellte er die Aufgabe, einen Vortrag, er sprach von Vorlesung, über Bismarck als schlauen und Bebel als weisen Protagonisten des Klassenkampfs zu halten.
Wodurch mich der Auftrag des Leiters der Parteischule in Hohenschönhausen, belehrend über Bismarcks Schläue und Bebels Weisheit hervorzutreten, nicht unvorbereitet traf. Was ich weder ihm noch Lehrern oder Schülern auf die Nase band. Weshalb mir die relative Kenntnis der Sozialistengesetze den Ruf eintrug, ein absoluter Kenner der Parteigeschichte zu sein. Woraus sich die Schärfe unseres Zusammenstoßes wegen Liebknechts Haltung zu den Kriegskrediten erklärt. Weil meine Haltung als Zeichen von Spezialisten-Überheblichkeit galt. Wie man es nannte, wenn einer vor lauter Erfolg beim Umgang mit den Sozialistengesetzen vom Schwindel befallen worden war.
Sicher der streitbeladenen Jahre wegen, die seither
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