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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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Nachbarin aus Berlin-Ost sei an diesem Abend in Berlin-West, um sich über organisierte Kriminalität und deren Bekämpfung ins filmkünstlerische Bild zu setzen.
    An jenem Tag, an dem mich Genosse Wilhelm Strickland feuerte und ich, nachdem mich die Firma Moeller & Moeller heuerte, aus dem Liebknecht-Haus nach Nordend unterwegs war, fragte ich mich, angeregt von den Blicken meiner Gegenüber in Untergrund- und Straßenbahn, ob sich die Schwierigkeit der Leute, bei denen ich Obdach suchte, auch auf die Einheit zwischen mir und der Einheitspartei beziehen werde. Mehr als bedauerlich wäre das, denn am Unmaß Berlins gemessen war es von der ostberliner Wohnadresse bis zu ersten Adressen des westberliner Lichtspielwesens nicht nur nicht weit, sondern bezaubernd nah. Da mußten die Wirtsleute schon außerordentlich schwierige Leute sein, daß ich nicht ihr möblierter Herr oder Schlafbursche werden wollte.
    Leonhard und Adele Bick waren nicht schwierig. Die Frau sagte, Zimmersachen regle ihr Mann, und der Mann sagte eine Weile nichts. Er hatte eine schlecht vernähte Oberlippe. Auch waren alle seine oberen Zähne schräg nach rechts gewachsenund alle unteren schräg nach links, und er schien sich nicht damit abgefunden zu haben. Als er mich und das Abzeichen an mir musterte, ließ er die Zahnreihen suchend übereinander ratschen.
    »Partei bist du«, sagte er, »ich bin Anarcho-Syndikalist. Kennst du Bakunin?«
    »Wie man den so kennt.«
    »Und Feuerbach?«
    »Den auch so.«
    »Und Max Stirner?«
    » Der Einzige und sein Eigentum? Ja, aber frage nicht, ob ich das verstanden habe.«
    Leonhard Bick fand den Punkt, an dem Oberzähne und Unterzähne aufeinander paßten. Er hütete die Stellung, ehe er sagte, dann wären es in der Uhlandstraße schon zwei, die Der Einzige und sein Eigentum gelesen hätten.
    »Anarchist bist du nicht?«
    »Nur ein bißchen«, sagte ich. »Manchmal bin ich es. Manchmal möchte ich es sein. Nur das Ich ist das Wirkliche , das klingt verlockend.«
    »Es wird aber abgelehnt«, sagte Leonhard Bick und riet mir, in meiner Partei von solchen Sehnsüchten zu schweigen.
    Unnötiger Rat. Anarchismus war das letzte, was einem durchgelassen wurde. Nach dem Solipsismus, dem einzig das individuelle Ich als Wirkliches galt, kam gleich das Bombenschmeißen. Pech für den, der sich beim persönlichen Wunsch erwischen ließ, dem Klassenfeind an die persönliche Gurgel zu springen. Wenn nicht anders beschlossen, wurde nicht gesprungen; wer es dennoch tat, war Anarchist. – Ich fürchte, am Anfang unseres neuen Lebens haben wir ein Gutteil von ihm verquatscht.
    So schlau war ich noch lange nicht, als ich mit Leonhard Bick über Stirner sprach, aber ich war schlau genug, nicht gleich über den Anarchismus herzufallen. Das unterscheide mich, sagte mein künftiger Wirt, von dem Buchhalter nebenan, der mit Urflüchen um sich werfe, als sei er nicht erst seit kurzem in der Einheitspartei. Um es gleich zu erledigen, erwiderte ich, das gelte auch für mich. Und fügte nicht hinzu, daß ich um einHaar schon wieder draußen sei. Es hätte einem Anarchisten gefallen, aber es ging einen Anarchisten nichts an.
    »Der Buchhalter ist zwei Leben älter als du«, sagte Leonhard Bick, »und außerdem kennst du Bakunin.«
    »Den nicht so gut«, sagte ich, »Plievier kenne ich besser. Der war ja einer von euch.«
    Mein Anarchist und Zimmerwirt hatte gerade sämtliche Zähne dort, wo sie hingehörten, und er hielt seinen Mund still, als genieße er die Ordnung. Doch opferte er sie seiner Begeisterung: »Das weißt du? Und sprichst es aus? Alle reden über Stalingrad , aber von Des Kaisers Kulis und von Der Kaiser ging, die Generäle blieben gibt es nur die Redensarten. Und du kennst die Bücher?«
    »Die kenne ich.«
    »Und magst sie?«
    »Die mag ich. Ich mag auch einen armen Schuster und einen armen Fischverkäufer, die Sacco und Vanzetti hießen.«
    »Dann wohnen jetzt zwei in der Uhlandstraße, die Plieviers Bücher mögen und sagen, daß Nicola und Bartolomeo Anarchisten waren«, sagte Leonhard Bick.
    Weil sich so mehr als die eine Sache klären ließ, erkundigte ich mich, ob seine Frau ähnlich denke.
    »Die ist Musikforscherin«, sagte er.
    Ich fragte seiner Auskunft nicht nach; er fragte meiner Neigung nicht nach; auf die Weise haben wir immer unsere Grenzen gezogen. Gewiß waren Adele und Leonhard Bick, sah man es mit den Augen der Pförtnerin im Liebknechthaus, etwas schwierige Leute. Aber es wohnte sich gut bei ihnen,

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