Okarina: Roman (German Edition)
Kunst zu messen. Dann wurde er mit dem Bescheid: Na schön, da weißt du es nicht gegeißelt. Und ins Streckbett gespannt, das dem Schein nach eine Gesprächspause war. In Wahrheit jedoch eine Zwangslage, in der alle in sich gehen mußten. Allen voran Ronald. Mit ihm imSympathieschmerz ich. Und, siehe, auch der Genosse Gabriel Flair.
Daß er immer im Engagement bei der moralischen Anstalt stehe, wußte er gehörig vorzuführen. Zunächst war er noch mit seiner Aussage beschäftigt. Dann bot er uns vom Rauchzeug an. Dann stieß er sich vom Streit ab und sprach: »Da wollen wir mal eine paffen!« Dann fand er unter Einsatz seines meist hanebüchenen Übrigens zurück ins Gespräch: Übrigens könne man beim guten Brecht, den idealistisch nennen solle, wer den Mumm dazu habe, einen ständigen Gebrauch von Kimme und Korn und anderen Schützenhilfen ausmachen. Auch dürften Kunstwerke schon deshalb als Maßstab realer Sachverhalte dienen, weil sie, wenngleich mit vielen Winkelzügen, weitgehend aus diesen abgezogen seien. Was natürlich mit der Rolle der Bühne nicht nur als Interpretin der Welt, sondern als deren Teil zusammenhänge.
»Eine Frage«, sagte Ronald. »Wenn das, was sich auf der Bühne abspielt, auf dem Weg von der Wirklichkeit bis ins Stück durch einen Kopf, durch ein Bewußtsein gegangen ist, gehört der Dichter da zur Basis oder zum Überbau?«
»Keine Ahnung. Ich denke, die Lücke läßt sich mit einer Vermutung schließen: Was ein Kutscher tut, zählt zur Basis, was er denkt, zum Überbau. Beim Dichter dürfte sich das Verhältnis in Richtung Überbau verschieben. Nur sind Basis und Überbau lange nicht so streng geteilt, wie es die starke Mode will. Geschweige denn, daß alles Basis wäre, was sich dafür hält.«
Ronald gab sich gemeint: »Ob ich die Basis bin, weiß ich nicht, aber man sollte weniger die Welt von der Kunst her als eher die Kunst von der Welt her sehen.«
»Wenn du nicht verrätst, wie man das macht, erkläre ich es zur reinen Phrase«, erwiderte Flair und holte die Schärfe dazu aus einem anderen Gefecht. Im Bestreben, seine Uralt-Sträuße nicht zwischen uns kommen zu lassen, machte ich alles schlimmer mit der Frage, ob nicht ein ganz bestimmter Standpunkt, sie wüßten schon, welcher, der gesuchte Blickpunkt sei.
Ronald ließ mich sehen, daß er keinerlei Hilfe benötige, und Flair fragte, ob ich an einen Lehrsatz von Folgenreich Huldig denke.
O Gott, nicht diese Stimmung; alles klang dann wie Nachtrag zu einem üblen Streit. Einem, in dem andere das letzte böse Wort behalten hatten. Als es an der Zeit schien, diesem Folgenreich Huldig nachzufragen, hatte ich es versäumt. Fest stand, daß er ein Hilfsposten war, Prügelknabe und Spottbild in wütender Rede. Etwas Unsinniges wurde angeordnet, galt als unabwendbar oder stand auf dem Spiel, wollte durchgesetzt sein trotz absehbarer Verluste und führte früher oder später zur Verlautbarung des Bühnendichters Gabriel Flair, es gehe der fragliche Vorgang vermutlich auf Wesen und Wirken von Folgenreich Huldig zurück.
Manchmal glaubte ich, er meine unseren Landesobergenossen, und in kühnsten Augenblicken schloß ich den Übervater nicht aus. Unklar wie sie war, setzte sich die Redensart zwischen Ronald und mir fest. Ob es paßte oder nicht, wir sagten, in Gottes Namen, wenn Folgenreich Huldig es nun einmal so wolle.
»Wir streiten um des Kaisers Bart«, sagte Flair. »Die Bühne als moralische Anstalt ist perdu. Gefragt gilt Anstaltsmoral; nähere Richtlinien erläßt der Vorsteher.«
Weil wir unser Idol ohne Stimmungen wollten, versuchten wir meistens, taub und stumm gegen deren Anzeichen zu sein. Diesmal aber antwortete Ronald im Gestus der Jungbolschewisten, die einem zu oft und daher vorwiegend erheiternd im progressiven Kino begegneten: »Die Arbeiterklasse drückt ihre Verwunderung aus, Genosse. Moralische Anstalt und Anstaltsmoral – es verwirrt uns einfache Textilarbeiter.«
»Ein höchst produktiver Zustand«, sagte Flair.
19
Hier breche ich ab, versichere aber: Wir haben tatsächlich so gottverlassen über Gott und die Welt und Belange gesprochen, die uns von Herzen ernst und fremd gewesen sind. Zu dieser Erkenntnis die andere: Daß ich ausgerechnet zur selben Zeit, in der ich mich weder im Sattel noch unterm Jochvermutet hätte, in der Nähe des einen wie des anderen gewesen bin. In Fesseln und in Freiheit zugleich. Wir haben uns, obwohl in tausend Pflichten eingebunden, vor allem anderen frei
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