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Okarina: Roman (German Edition)

Okarina: Roman (German Edition)

Titel: Okarina: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Kant
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auszusehen begann. Ich habe sie in Zeiten gesehen, da sie wie zweie wirkte. Wie die Stadt Krieg und die Stadt Frieden. Der Markierung durch Zaun oder Mauer bedurfte es nicht, um die Grenze anzuzeigen; einen Steinwurf über sie hin war alles anders. Am Ende der Spanne sah man nicht mehr, was man an ihrem Anfang sehen konnte: Daß ein und dieselbe Bombenreihe hier begonnen und dort aufgehört hatte. Wegen desselben Auswurfs aus Phosphor, Kordit und Stahl waren Anwohner dort wie Anwohner hier in denselben Bunker gekrochen; nun wohnten sie einander an einer Front gegenüber. Hatten sich nicht fortbewegt, aber siedelten zu beiden Seiten eines Grabens. Hatten gemeinsam verloren und je nach Ortslage ganz anders verloren.
    Zwar wohnte man in der Linienstraße schon immer ärmlicher als in Frohnau, und von da nach dort mußte nicht nur Fontane auf lange Fahrt. Doch reiste er, wann er wollte, füge ich, vom Zwischenruf veranlaßt, hinzu. Für eine Nachkriegsweile ließ sich, wie alle Gazetten auf Erden wußten, mit zehn Schritten von der Südseite der Bernauer Straße auf deren Nordseite gelangen. Und damit aus dem Osten in den Westen. Nicht nur der Stadt, sondern der Welt.
    In späteren Tagen bewältigte sich dies nur mit einem Sprung, den Leute wie ich für fluchwürdig hielten. Ich war auch in dieser Sache Partei. Aber obwohl ich mir die Zerrissenheit der Stadt an den Schuhsohlen ablief, habe ich mich, soweit die Redensart Gewöhnung meint, nicht an den Zustand gewöhnt.

18
    Jetzt geht es mit meiner Landnahme in Berlin weiter. Ein kapriziöserer Ort hätte sich nicht finden lassen. Warschau, wo eine Minderheit von Überlebenden einer Mehrheit von Toten begegnete, war weiß Gott nicht ohne. Aber die erledigte Hauptstadt des erledigten Reiches, über die vier Reiche Aufsicht übten, mußte bizarr geheißen werden.
    Dennoch ging es zwischen Bewohnern und Besetzern weniger schroff als zwischen den Bewohnern zu. Schon gar zwischen solchen, die parteilos und denen, die Parteileute waren. Den Russen konnte man, wenn man einen gewissen Krieg bedachte, die Anwesenheit schlecht verdenken, selbst wenn nicht einmal jedes Parteimitglied entzückt von ihr war. Der Partei aber wurde verdacht, daß sie sich für diese Anwesenheit auch noch bedankte. Lauthals und gedenktags mit Kränzen.
    Ich rede gleichmacherisch von uns Einheimischen, da man mir in Nordend die Nordsee nicht ansah. Daß ich zur SED zählte, sah man mir an. Weil ich mit dem Abzeichen darauf aufmerksam machte. Die meisten Berliner dachten, wenn ihnen ein Trüppchen der geschorenen Komsomolsoldaten begegnete: die armen Hunde! Aber von mir in der Straßenbahn dachten dieselben Berliner: der Schweinehund! Maß man es am Rochus, mit dem sich das emaillierte Händepaar auf meinem Revers in den Augenpaaren meiner Mitberliner reflektierte, hieß der eigentliche Kommandeur der armen russischen Hunde nicht Schukow oder Rokossowski, sondern grad so wie ich.
    Weshalb nicht verwundern darf, daß ich der Bürde ab und an zu entkommen suchte, indem ich einen der Grenzflüsse des Berliner Kontinents überschritt. Westwärts ho, bis Nollendorfplatz, Hermannplatz, Savignyplatz, Zoo oder Knie oder bis zur Schloßstraße von Steglitz. Von Motiven gesellschaftlicher Natur abgesehen, sah ich mich dort aus allerprivatesten Gründen um. Aus Heimweh nach Laramie und Kansas City, aus Sehnsucht nach Spencer Tracy und Gloria Graham, aus chronischer Leinwandleidenschaft und altem Proamerikanismus,der sich mit neuem Antiamerikanismus vertrug, da ich zu Gunsten meines Bewußtseinsheils säuberlich zwischen Truman und Whitman unterschied.
    Wenn Ronald Slickmann, als ich ihm zum ersten Mal in seiner Rolle als Eismann begegnete, viel Wesens von der Konspiration machte, die auf seinen Handelswegen nötig sei, übte ich auf meinen Wegen in die Spätvorstellung Vergleichbares. Auch für mich gebot sich Anverwandlung. Das Abzeichen und der Ausweis blieben im verschwitzten Beutel zwischen Wand und Schrank zurück. Soweit ich die Wahl der Kleider hatte, entschied ich mich gegen alles von allzu orientalischem Zuschnitt. Als Späher stand ich den Huronen nicht nach. Ich wußte ja, Berlin war ein Dorf, dessen Linde neben dem Cineastentempel am Steinplatz stand. Während sich genügsame ländliche Filmliebhaber in der Badstraße trafen. Da empfahl sich, es Humphrey Bogart und Edward G. Robinson gleichzutun, ehe man ihren Kämpfen beiwohnte: Kragen hoch, Augen auf, die Sprintmuskeln gespannt für den Fall, auch die

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