Okarina: Roman (German Edition)
nicht hätten handeln dürfen, weil uns von den späteren Bedienhinweisen noch keiner vorlag. Aufs Deutsche gesehen waren wir ohne Vorbild; aufs Ganze gesehen durften wir das Vorbild nicht beim Namen nennen. Marsch ins Unbekannte und Marsch ins Ungenannte. Wir lebten mit halbverstandenen Sprüchen wie demvom Sozialismus, der soviel wie Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes bedeute. Da wir eine Sowjetmacht nicht wollen durften und die Elektrizität längst im Lande wußten, war uns Lenins Broschürenfrage Was tun? wie aus dem Herzen geschnitten und klang in unserer verbiesterten Wiedergabe wie Was nun? Im vorökonomischen Stadium unseres Bewußseins ahnten wir kaum, was Elektro- und Politenergie miteinander zu schaffen hatten. Wo wir unwissend waren, zeigten sich Leute wie Jochen Bantzer witzig und fragten, ob wir schon Stalins grundlegende Schrift Staat und Installation gelesen hätten.
Diesen Pidgin-Leninismus muß Gabriel Flair gemeint haben, als er unter den unmündigen Ohren eines Druckers und eines Kutschers, die er beide erst seit Stunden kannte, ungeniert etwas von Josef Ballhornewitsch Stalin sagte. Wobei es heutzutage verdächtigen Kerlen wie Ronald und mir selbst bei ehrwürdig vernünftigen Leuten viel Glaubwürdigkeit nimmt, daß wir mitten in Stalins kaltem Winter einen derart unerhörten Schimpf überhört haben wollen. Daß wir bei diesem RIAS-Unflat nicht Feurio schrien. Daß wir nicht Mordio gellten bei derartigem Insulaner-Frevel. Daß wir nicht zu dritt in die zonale Hölle stürzten, weil der eine so sprach und die anderen so schwiegen, kann keiner glauben. – Um mit Gabriel Flair zu antworten: Da könnt ihr es eben nicht.
22
So unbedacht, wie wir uns aufführten, kommen wir nur in wenigen Beschreibungen vor. In unserem Nichtwahrnehmungswahn sahen wir nicht, daß wir nicht vorgesehen waren. Ohne künftiger Urteile zu achten, nahmen wir uns zur Tatzeit heraus, so zu sein, wie uns einfiel. Oder wie es uns nicht anders einfiel. Es ist unsere Einfallslosigkeit, die uns erklärt. Verrücktheit eben.
Um das zu vertiefen: Eine freundliche Frau hat befremdet gesagt, außer mir kenne sie niemanden, der privaterhandGrimms Wörterbuch besitze. Anstatt mich geschmeichelt zu fühlen, antwortete ich, es werde eine Frage ihres Umgangs mit wirtschaftlich denkenden Leuten sein. Tatsächlich, stellte man mir die unbesiegliche Frage, welches Buch ich mit auf eine Insel nähme, sollte man auf meine dreiunddreißigbändige Antwort eingerichtet sein.
Ahnt man, wer sich in dem Inselbuch mit einem Beispiel meldet, sobald nach Verrücktheit gefragt wird? Goethe natürlich, den die Grimms Göthe schreiben. (Wie Voß Odüßee schrieb.) Dieser Göthe wird mit den Worten zitiert: »unter die damaligen verrücktheiten, die aus dem begriffe entstanden: man müsse sich in einen naturzustand zu versetzen suchen, gehörte denn auch das baden im freien wasser unter offnem himmel.«
Was wollte Göthe damit sagen? Daß eine öffentliche Badeanstalt eine Irrenanstalt und der Mensch kein Fisch sei? Ähnlich ihm sprangen Fedias und Ronalds und meine Landsleute mit uns um, wenn wir ihnen, um sie für den von uns präferierten Zustand zu gewinnen, mit der liedhaften Erkundigung kamen »Als Adam grub und Eva spann / wo war denn da der Edelmann?« Oder wenn wir mit der Behauptung von Eisler und Kuba, ohne Kapitalisten gehe es besser, mehr als eine kesse Lippe riskierten.
Der Mensch sei ein Herdentier bzw. Kollektivwesen und brauche einen Hirten bzw. Vorsitzenden, hörten wir dann. Nicht nur von denen, die am Alten hingen, sondern auch von denen, die uns ins Neue führten. Beim Versuch, mit Gabriel Flair über das Mädchen aus Jüterbog zu reden, fand ich wenig Gehör, weil ich, um auf Umwegen zum schwierigen Thema zu kommen und ihn mit einer Geschichte zu bestechen, zuerst von ihr und mir und dem Mann erzählte, den wir Wagenwand an Wagenwand mit uns hatten klagen hören, er sei zwar zu seinem Vergnügen mit Tolstoi verglichen worden, jedoch zu seinem Mißvergnügen dieser nicht mit ihm. Meistens fand der Große Dramaturg meine Schnurren, die ich ihm mit Verehrereifer zutrug, erheiternd. Oder, mit einem seiner überlagerten Ausdrücke, ulkig. Nicht diesmal. Von Fedia schien er nicht hören zu wollen, und das Quartett, von dem drei Teile aufunterschiedlichste Weise einem quengelnden Epiker lauschten, trug mir den Bescheid ein, ihm komme die Sache gesucht vor. Er rate, nicht auf Kosten eines halbblinden Dichters faule
Weitere Kostenlose Bücher