Oksa Pollock. Der Treubrüchige
ließ, dann gab es eigentlich keinen Grund, weshalb jemand merken sollte, dass wir … anders waren.«
»Komisch, dass du von alldem in der Vergangenheit sprichst.«
»Das liegt jetzt hinter uns«, murmelte Cameron, den Blick auf das wild brodelnde Meer gerichtet. »Was auch kommen mag, unser Leben im Da-Draußen gehört der Vergangenheit an.«
Oksa erstarrte. Cameron hatte recht. Eine Welle von Bitterkeit überschwemmte plötzlich ihr Herz, während die Bilder ihrer bisherigen vierzehn Lebensjahre vor ihrem inneren Auge vorbeizogen.
…
»Alles okay, Oksa? Wach auf!«
Sie schlug die Augen auf und sah, dass ein Dutzend Leute gebannt auf sie herabsahen. Sie selbst lag, wie sie nun feststellte, in der Hängematte der Steuerkabine, und da ging ihr auf, dass sie bewusstlos gewesen sein musste.
»Was ist passiert?«, fragte sie und richtete sich auf.
»Du hast mit Cameron gesprochen und bist auf einmal ohnmächtig geworden«, erzählte ihr Vater, dessen Gesicht ganz grau war.
Oksa runzelte die Stirn. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge vorbeigezogen waren – ihr ganzes Leben verdichtet auf wenige Sekunden … Hieß es nicht, dass man das sah, wenn man starb? Sie fröstelte. Was sie früher einmal gewesen war, existierte nicht mehr, und doch gehörte diese Vergangenheit untrennbar zu ihr.
»Ist das wegen mir?«, fragte sie mit Blick nach draußen.
Der Himmel hatte sich vollends verfinstert. Schwarze Blitze zuckten, schillernd wie Onyx, und der Regen fiel in Sturzbächen auf das Meer und das Schiff.
»Die Chancen sind ziemlich hoch«, sagte Tugdual von der Theke aus, auf der er saß.
»Ich muss wirklich lernen, das in den Griff zu kriegen«, murmelte Oksa verärgert.
»Das wirst du, keine Sorge. Alles zu seiner Zeit«, sagte Dragomira beschwichtigend.
»Weißt du«, schaltete sich Abakum ein, »deine Großmutter sorgte mehrere Jahre lang für ein ungewöhnlich gewitterträchtiges Mikroklima über dem sibirischen Dorf, in dem wir lebten, bevor es ihr gelang, gewisse Emotionen unter Kontrolle zu bringen.«
»Stimmt das?«
»Und ob«, gab Dragomira zu. »Nimm den Befähiger hier ein, meine Duschka, damit wird es dir gleich viel besser gehen.«
Oksa schluckte die silbrige Pille, die ihr ihre Großmutter reichte, ohne zu fragen. Sofort spürte sie, wie ihre Kräfte zurückkehrten und sich eine sprudelnde Energie wohltuend in ihrem Körper ausbreitete.
»Das musst du mir auch beibringen«, murmelte sie.
»Wird gemacht!«, versprach Dragomira.
Der Tumult am Himmel, der an den Zustand der Jungen Huldvollen gekoppelt war, legte sich augenblicklich. Die Wolken lösten sich auf und gaben den Blick auf die untergehende Sonne frei, die flammend rot im Meer versank.
»Ä-häm …«
Dragomiras Plemplem war zu ihnen getreten und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, indem er sich immer lauter räusperte. Endlich bemerkte Dragomira ihn.
»Was gibt es denn, lieber Plemplem?«
»Die Alte Huldvolle und ihre Reisegefährten müssen die Mitteilung empfangen, dass die Insel der Treubrüchigen, so benannt von der Jungen Huldvollen, die Sichtbarkeit vonseiten der schärfsten Augen erfahren hat …«
Alle Rette-sich-wer-kann in der Kabine wandten den Kopf schlagartig zum Horizont und kniffen die Augen zusammen. In der Ferne zeichnete sich eine winzige Erhebung gegen den Himmel ab. Sie glühte feuerrot in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Die Insel der Treubrüchigen
E
skortiert von Naftali und Pierre, näherte sich Pavels Tintendrache mit kräftigen Flügelschlägen der Insel der Treubrüchigen. Dreißig Meter unter ihm brachen sich die Wellen mit unbändiger Wucht an den dunklen Felsen der Steilküste. Der riesengroße, marmorierte Vollmond warf ein fahles Licht aufs Meer. Die Insel bestand aus einem massiven Felsblock, vor dem spitze Klippen wie Fangzähne aus den Tiefen der See ragten. Nur eine winzige Bucht schien zugänglich zu sein. Dort lag ein Boot vertäut, annähernd so groß wie der Seewolf . Die Flügel des Tintendrachen schlugen noch schneller: Pavel hatte vor, die Insel zu überfliegen.
»Tu’s lieber nicht!«, warnte ihn Naftali.
»Ich will nur einen Blick auf die Insel werfen«, gab Pavel zurück. »Die wissen sowieso, dass wir da sind. Ihr beide bleibt hier.«
Naftali und Pierre blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Sie ließen sich auf einem großen Felsen nieder und warteten.
Das Erste, was Pavel sah, als er die steilen Felsen hinter sich gelassen hatte, war das
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