Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Handy aus, klappte es abrupt zu und steckte es in die Tasche. Dann sah er Oksa aufmerksam an.
»Du wirkst ziemlich mitgenommen, Kleine Huldvolle.«
»Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.«
»Du auch nicht.«
»Ja, ich will es wirklich wissen!«, sagte sie.
»Na gut, um es kurz zu machen: London und eine Reihe weiterer Städte überall auf der Welt stehen zwei Meter tief unter Wasser. Die Kontinentalplatten laufen aufeinander Schlittschuh und lassen an ihren Verwerfungen die Erde beben, die Richterskala ist am Durchschmoren. Und dann wäre da noch eine wahnwitzige Häufung von Erdrutschen, heftigen Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen und Waldbränden …«
»Das ist ja schrecklich!«, rief Oksa.
»Ach und, das hätte ich fast vergessen: Ein riesiges Stück Packeis ist abgebrochen, ausgelöst durch ein Erdbeben. Jetzt treibt eine dreihundert Quadratkilometer große Eisscholle im Nordpazifik herum.«
»Furchtbar …«, flüsterte Oksa geschockt.
»Das ist das Ende der Welt, meine Kleine Huldvolle«, fasste er mit gespielter Coolness zusammen.
Oksa quittierte diese zur Schau gestellte Lässigkeit, indem sie ihn freundschaftlich mit dem Ellbogen anrempelte – wobei ihr keineswegs entgangen war, dass er sie zum ersten Mal »meine« Kleine Huldvolle genannt hatte.
»Aua«, sagte er traurig.
Oksa lachte nervös.
»Ich kann dir ganz schön wehtun, wenn ich will!«
»Ich weiß!«, sagte Tugdual im selben Ton.
Er sah sie immer noch mit diesem teils herausfordernden, teils amüsierten Blick an, der Oksa komplett dahinschmelzen ließ.
»Und ich kann dir auch sehr wehtun«, murmelte er und ließ eine Strähne seines kohlrabenschwarzen Haars ins Gesicht fallen.
Oksa schwieg einen Moment und kämpfte mit sich.
»Das kannst du, aber du würdest es nicht tun«, sagte sie schließlich mit möglichst fester Stimme. »Oder?«
Dabei schaute sie Tugdual tief in die Augen. Eine Sekunde lang war sie sich sicher, dass er ins Wanken geraten war, dass etwas Brüchiges in ihm an die Oberfläche drängte. Das beruhigte und verstörte sie zugleich. Tugdual hatte seine Schwächen schon mehrfach offenbart. Für Oksa waren sie berührend, aber waren sie für ihn selbst nicht unerträglich? Und für die anderen sogar gefährlich? Als Orthon in ihr Haus am Bigtoe Square eingedrungen war, da hatte er es nur auf Tugdual abgesehen gehabt, als ahnte er, dass in dem Jungen ein düsteres, ja zerstörerisches Potenzial steckte … Oksa schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen. Der Plemplem hatte ihr doch versichert, dass Tugdual ein reines Herz hatte und loyal war. Er konnte sich nicht irren. Das war unmöglich. Ihr gingen ein paar Zeilen aus einem Song durch den Kopf. Die summte sie jetzt kaum hörbar vor sich hin:
I want to reconcile the violence in your heart
I want to recognize your beauty ’s not just a mask
I want to exorcise the demons from your past …
Tugdual sah sie überrascht an und wandte dann den Blick ab. Beide schauten auf die tosende See, gebannt von der Kraft, die von dieser ununterbrochenen Bewegung ausging.
»Woran denkst du?«, fragte Oksa schließlich.
»Wenn ich dich ansehe?«
»Hör auf, meine Fragen ständig mit Gegenfragen zu beantworten!«, sagte Oksa mit einem Seufzer, musste sich das Grinsen aber verkneifen.
»Okay … Hast du Zeit?«
»Jetzt gib mir doch endlich eine Antwort!«
»Na gut, du hast es so gewollt. Meine Gedanken hängen oft davon ab, was ich gerade sehe und wie ich es deute. Wenn ich deinen Vater und Abakum sehe, dann denke ich an einen Eisberg, rein und weiß, und vor allem an ihre unsichtbare Kraft, die sich unter der Oberfläche verbirgt. Wenn ich Remineszens und Zoé sehe, denke ich an einen vergifteten Dolch, von dem Tropfen um Tropfen eines grausamen Gifts mitten ins Herz dringen. Wenn ich Dragomira und meine Großeltern sehe, denke ich an das Schicksal, das ohne Vorankündigung zuschlägt. Wenn ich das Meer sehe, denke ich an meinen Vater auf einer Bohrinsel und würde mich am liebsten in diese schwarzen Fluten stürzen …«
Seine Stimme versagte. Aschfahl im Gesicht klammerte er sich an die Reling und fuhr dann fort: »Wenn ich meine Cousine sehe, denke ich an den kaltblütigen Mord, den ich begehen könnte. Wenn ich meinen kleinen Bruder sehe, denke ich an die Unschuld, die irgendwann zwangsläufig verloren gehen wird. Und wenn ich dich sehe, denke ich an die Macht und die Hoffnung, die du verkörperst. Und das fasziniert mich.«
Kaum hatte
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