Oksa Pollock. Der Treubrüchige
hatte, doch sein Zustand jagte ihr Angst ein. Instinktiv blickte sie sich nach Tugdual um. Er hatte sich an die Felswand gelehnt und inspizierte unbeteiligt sein Granuk-Spuck. »Ich liebe sie beide«, schoss es Oksa durch den Kopf. Und sie erschrak darüber, dass sie ausgerechnet hier und jetzt zu diesem Schluss kam.
»Vielleicht wäre es besser, wenn er auf dem Schiff bleibt?«, fragte Jeanne und riss Oksa aus ihren Gedanken.
»Oh nein, bloß nicht«, stöhnte Gus. »Dann sterbe ich doch lieber am Strand.«
Er nahm den Kopf zwischen die Hände.
»Also wirklich, ich bin euch schon ein Klotz am Bein«, fuhr er fort. »Erst lasse ich mich von einem fiesen Chiropter beißen, dann werde ich eingemäldet, und jetzt halte ich mit meinen Wehwehchen die ganze Truppe auf.«
Auf diese Worte hin schmiegte sich das Plemplem-Baby noch fester an ihn und rieb das kleine Köpfchen an seinem Arm, während Oksa die Augen zum Himmel verdrehte.
»Es wurde allmählich Zeit, dass du mal wieder mit dieser Leier ankommst.«
Pierre, der seinem Sohn bisher nicht von der Seite gewichen war, ging plötzlich zu Abakum und Remineszens und unterhielt sich leise mit ihnen. Oksa spitzte die Ohren und setzte auf das Flüsterlausch, um mehr zu erfahren.
»Wir haben keine Wahl mehr«, sagte Remineszens. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Falls sie das Gegenmittel haben, wird es den Prozess verlangsamen, und er hat eine Chance …«
Oksa unterdrückte einen Schrei. Was für eine Chance? Eine ÜBERLEBENSCHANCE? Ihr Herz krampfte sich zusammen. Ihr entsetzter Blick begegnete dem Abakums. Der Feenmann schien zu begreifen, dass sie das Gespräch belauscht hatte. Er blickte ihr lange und tief in die Augen. Pierre und Remineszens bemerkten es und drehten sich ebenfalls zu ihr um. Benommen wandte sie sich ab und gab vor, die Felsen zu betrachten.
»Gehen wir!«, sagte Pierre und kehrte zu Gus zurück. »Ich trage dich.«
»Vielleicht tut mir das Gehen gut«, wandte Gus ein und rappelte sich auf.
Er musste sich an seinem Vater abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein paar Sekunden lang schloss er die Augen, dann öffnete er sie wieder und lächelte matt. Sein Blick blieb an Oksa hängen, die immer noch die Phosphorille hielt und an den Fingernägeln ihrer freien Hand kaute.
»Siehst du, Oksa?«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Ich bin in Topform! Also hör auf, dir die Nägel abzubeißen.«
»Das war sowieso gerade der letzte«, gab sie verzagt lächelnd zurück.
»Du warst schon immer ein Schlemmermaul«, witzelte er.
»Nun denn, ich glaube, es wird Zeit, dass wir unseren Gastgebern Hallo sagen«, meldete sich Pavel mit rauer Stimme zu Wort. »Alle, die nicht vertikalieren können, steigen auf meinen Rücken.«
Und schon spannten sich seine Gesichtszüge vor Konzentration an, und die Umstehenden konnten im Schein des Mondes beobachten, wie der Tintendrache aus der Tätowierung auf Pavels Rücken zum Leben erwachte.
»Papa … du bist umwerfend«, murmelte Oksa ergriffen.
Pavel warf ihr einen so liebevollen Blick zu, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Abakum, Virginia, Kukka und Andrew kamen beeindruckt näher, um sich auf sein Rückgrat zu schwingen. Mit großer Kraft hob das Geschöpf vom Boden ab. Auch Pierre erhob sich mit Gus auf den Armen vertikalierend in die Lüfte. Oksa und Zoé gesellten sich im nächsten Moment dazu, gefolgt von Dragomira und Remineszens sowie dem ganzen Fortensky-Clan. Die Knuts hatten sich, als echte Handkräftige, fürs Klettern entschieden. Mit bloßen Händen nahmen sie die senkrechte, schroffe Felswand in Angriff und kletterten wie Spinnen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit daran empor, ohne sich im Geringsten an den scharfen Felsvorsprüngen zu stören. Oksa flog fasziniert über ihnen hin und her, um ihren Aufstieg zu bewundern, vor allem natürlich den von Tugdual, der sich mit seinem Onkel Olof ein Wettrennen zu liefern schien. Ihnen folgte juchzend der kleine Till, den seine achtsam hinter ihm kletternde Mutter stützte.
Schließlich waren alle Rette-sich-wer-kann am oberen Rand des Kliffs angekommen. Und auf einmal erschienen ihnen die gezackten Felsen, die sich bis zu den finsteren Fluten des Meeres unter ihnen erstreckten, ziemlich harmlos. Denn vor ihnen lag die offene Heide und erstreckte sich, ohne irgendeine Deckung zu bieten, bis zu dem trutzigen Gebäude, in dem sich die Zukunft der beiden Welten entscheiden sollte.
Gefahr aus der Luft
E
in Weg schlängelte sich
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