Oksa Pollock. Der Treubrüchige
erkannten. »Wie ich sehe, kommt ihr in schlagkräftiger Begleitung.«
»Guten Abend, Mercedica.« Dragomira unterdrückte mühsam ihre aufsteigende Wut. »Das Kompliment kann ich nur erwidern«, sagte sie und musterte die beiden Männer an Mercedicas Seite.
»Oh, besten Dank«, gab die stolze Spanierin ironisch zurück. »Welch eine Freude, dich wiederzusehen, Remineszens«, sagte sie plötzlich. »Nach all den Jahren … Bestimmt hast du deine Neffen wiedererkannt?«
Oksa merkte, dass Remineszens erschüttert war. Aber sie war stärker, als man es ihr auf den ersten Blick zutraute: Sie reckte den Kopf in die Höhe und fixierte das Trio mit eiskaltem Blick.
»Mortimer und Gregor, die Söhne deines Zwillingsbruders!«, schleuderte ihr Mercedica entgegen.
Ein provozierendes Lächeln legte sich auf das Gesicht der beiden jungen Männer, verschwand jedoch rasch wieder, als Remineszens erwiderte: »Zu deiner Orientierung, Mercedica: Denen, die du meine ›Neffen‹ nennst, fühle ich mich nicht enger verbunden als diesem alten Papiertaschentuch hier …«
Dabei zog sie ein zerknülltes Taschentuch aus der Tasche, ging zum nächsten Kerzenleuchter und hielt es in die Flamme. In der verblüfften Stille, die eingetreten war, ließ sie das brennende Knäuel zu Boden fallen und trat die Reste mit der Schuhspitze aus.
»Aber Blutsbande sind doch stärker als ein altes Taschentuch, meine liebe Remineszens«, sagte Mercedica mit einem gekünstelten Lachen. »Nun, wir werden später noch genügend Zeit haben, über all das zu sprechen«, fuhr sie fort und kam dabei die letzten paar Stufen herunter. »Tretet ein!«
Immer noch eskortiert von Gregor und Mortimer, ging sie auf die große Tür links vom Hauseingang zu und schob beide Türflügel zum Salon auf. Dort warteten all jene, die sich Orthons Sache angeschlossen hatten.
Dragomira betrat in Begleitung von Oksa, Remineszens und Abakum den riesigen Raum, und die übrigen Mitglieder der Vorhut folgten ihnen. An den glatten Steinwänden flackerte das Licht der Öllampen, und der ganze Raum war mit dicken Teppichen ausgelegt. Schwere, alte Ledersessel standen im Halbkreis rund um den enorm großen Kamin, in dem ein kräftiges Feuer loderte, oder waren zu kleinen Sitzgruppen um flache Metalltischchen herum arrangiert. Die hintere Zimmerwand war ein einziges großes Bücherregal voller alter Bücher, auf deren Einbänden die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte. Alles wirkte sehr stilvoll, beinahe gemütlich, hätte nicht diese gespannte Atmosphäre in der Luft gelegen.
Denn die Treubrüchigen waren keineswegs weniger beeindruckt als ihre Besucher. Trotz ihrer feindseligen Haltung wirkte die Begegnung mit diesen für Edefia so bedeutenden, ja berühmten Persönlichkeiten stark auf sie: die zwei Huldvollen, die Zwillingsschwester ihres Anführers Orthon und der mächtige Abakum. Auch die Geschöpfe hinterließen einen tiefen Eindruck, und dazu kam noch die unsichtbare Gegenwart all jener, die sie draußen vor dem Haus vermuteten. Genügend Gründe für die Treubrüchigen, auf der Hut zu sein. Aber auch Abakum, Dragomira und Remineszens wühlte es sehr auf, als sie in die Gesichter vor sich blickten. Selbst mehr als fünfzig Jahre nach der Flucht aus Edefia waren ihnen manche davon noch vertraut, zum Beispiel Lukas, der begabte Mineraloge, und Agafon, der ehemalige Memothekar, Leiter des Archivs der Huldvollen.
»Bitte nehmt Platz«, sagte Mercedica und deutete mit ihrer beringten Hand auf eine Reihe von Sofas an der Wand.
Doch keiner der Rette-sich-wer-kann rührte sich von der Stelle. Stattdessen musterten die beiden verfeindeten Gruppen einander weiterhin mit höchster Wachsamkeit. Oksa fiel auf, dass Mortimer Zoé keinen Moment aus den Augen ließ. Wie er sich verändert hatte! Er war schlanker geworden, feingliedriger und zugleich muskulöser. Als Oksa sich zu ihrer Freundin umblickte, stellte sie überrascht fest, dass Zoé die Arme abweisend vor der Brust verschränkt hatte und dem Blick des jungen Treubrüchigen mit kühler, feindseliger Miene standhielt. Oksa richtete ihre Aufmerksamkeit auf den anderen jungen Mann, dessen Aussehen keinen Zweifel daran ließ, dass er Orthons Sohn war: dieselbe hagere Figur, dieselben pechschwarzen Augen, dieselbe steife Haltung. Das war also der berüchtigte Gregor, dachte Oksa, während sie seine harten Gesichtszüge betrachtete. Der es gewagt hatte, die Hand gegen ihre Baba zu erheben! Der ihrer Großmutter das Medaillon und
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