Oksa Pollock. Der Treubrüchige
von der Mauer und vertikalierte zu Pavel.
»Ich hab sie gefunden.«
Blitzschnell versammelten sich die sechs Rette-sich-wer-kann, um sich zu besprechen. Pavel gab das Startsignal, indem er Naftali die Hand auf die Schulter legte. Dann drang der Schwede mit gezücktem Granuk-Spuck durch die Mauer ins Innere des Gebäudes. Gleich darauf erklangen Schreie, zur Beunruhigung der Wartenden. Doch dann ging das Fenster auf, und Naftali schaute mit triumphierender Miene heraus.
Vor den angstvoll aufgerissenen Augen einer geknebelten und mit dem Arboreszens von Naftali gefesselten Frau sprang Pavel zu dem Bett, auf dem Marie lag. Die beiden umarmten sich mit unbeschreiblicher Erleichterung. Über vier Monate lang waren sie getrennt gewesen, und die Freude über das Wiedersehen war für Pavel fast so schmerzhaft wie der Schock, den ihm die Nachricht von Maries Entführung versetzt hatte. Er atmete tief durch, um sein pochendes Herz unter Kontrolle zu bringen, und nahm Maries Gesicht in beide Hände.
»Vorsicht, da kommt jemand!«, unterbrach ihn Pierre, der das Ohr an die Zimmertür gelegt hatte.
Pavel sprang auf und stellte sich in kampfbereiter Haltung vor das Bett. Ihm gegenüber hielt Naftali die gefesselte Frau in Schach. Sie wirkte panisch, ein flehentlicher Ausdruck lag in ihren Augen.
»Bitte tut ihr nicht weh!«, flüsterte Marie.
Pavel warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Sie hat mir sehr geholfen«, konnte Marie gerade noch sagen, bevor die Tür mit einem Krachen aufflog.
Vier Treubrüchige stürzten herein und blieben beim Anblick der Eindringlinge erschrocken stehen. Die Rette-sich-wer-kann wirkten nämlich weitaus eindrucksvoller, als ihre Feinde sie sich vorgestellt hatten: Die außergewöhnliche Erscheinung der Knuts, die eindrucksvolle Statur eines Pierre und eines Cockerell, das undurchdringliche Gesicht Feng Lis und der Zorn Pavels verstärkten noch den Eindruck wilder Entschlossenheit, der von der kleinen Gruppe ausging.
Diesen kurzen Moment der Verblüffung nutzte Brune sofort. Sie schnellte in die Luft und versetzte einem ihrer Gegner mit beiden Füßen einen Stoß gegen die Brust. Der stürzte zu Boden und riss die drei anderen hinter sich mit. Allerdings hatten diese sich inzwischen wieder gefasst und schossen Granuks auf ihre Gegner ab, denen die Rette-sich-wer-kann jedoch ausweichen konnten. Als Nächstes loderten Lichterlohs auf, die Pavel, ohne mit der Wimper zu zucken, abfing – er schien weder Schmerz noch Feuer zu spüren. Pierre setzte schließlich dieser Blitzattacke ein Ende, indem er allen vier Treubrüchigen einen Knock-Bong in den Nacken verpasste.
»Achtung!«, rief Feng Li, die am Fenster Wache stand, mit gedämpfter Stimme. »Von draußen kommen noch mehr!«
»Vom Gang auch!«, rief Pierre, nachdem er den Kopf flüchtig zur Tür hinausgestreckt hatte.
Obwohl er wusste, dass diese Geste sinnlos war, schlug er rasch die Tür zu, bevor er sein Granuk-Spuck zog. Die Freunde sahen einander an: Jeder von ihnen war bereit, es mit dem Dutzend Feinde aufzunehmen, das im nächsten Moment auch schon durch die Mauern und das Fenster in Maries Zimmer eindrang.
Giftpfeile
O
ksa wich einen Schritt zurück. Dort stand Orthon – wieder im Vollbesitz seiner körperlichen Gestalt, oder jedenfalls fast. Er trug eine dicke schwarze Brille, doch man konnte seinem Gesicht und seinen Händen ansehen, dass die Crucimaphilla ihre Spuren hinterlassen hatte. Von Weitem wirkte sein Teint perlmuttfarben. Doch je näher er kam, umso deutlicher konnte man erkennen, dass seine Haut völlig vernarbt war, als ob sie lauter kleine Löcher hätte, die sorgfältig zugeschmiert worden waren, von etwas wie … Goranov-Saft! Oksa musste unwillkürlich an die arme Pflanze mit den schwachen Nerven denken. Ob sie es wohl überlebt hatte? Die Haare des Obersten Treubrüchigen waren nicht mehr pechschwarz, sondern von einem eigenartigen metallischen Grau. Er nahm die Brille ab, und zum Staunen seiner Gegner, die seine rabenschwarzen Augen nur zu gut kannten, schillerten sie jetzt genau wie sein Haar in einem Metallgrau, das sogar noch grausamer wirkte.
Oksa merkte, wie sich eine kleine, warme Hand in die ihre schob: Der Plemplem hatte gespürt, wie sehr Orthons Erscheinen sie aus der Fassung brachte. All die schlimmen Erinnerungen, die sie mit diesem Mann verband, stürmten auf sie ein: die zahllosen Bedrohungen und Angriffe, die tödliche Gefahr, die von ihm ausging. Er hatte ihrer Familie und denen, die sie
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