Oksa Pollock. Der Treubrüchige
die Goranov geraubt hatte! Dieser gemeine Dreckskerl …
Schließlich brach Dragomira das Schweigen. Mit festem Schritt ging sie auf Mercedica zu. Eine leichte Erregung ergriff die Treubrüchigen, einige machten sich zum Angriff bereit. Mercedica hingegen schien das Ganze amüsant zu finden und lächelte bösartig. Ihre Tochter Catarina, die neben ihr stand, musterte Dragomira und ihre Begleiter verächtlich.
»Wir sind nicht hergekommen, um Höflichkeiten auszutauschen«, sagte die Alte Huldvolle mit dumpfer Stimme. »Wo ist Orthon? Hat er sich in einem Loch verkrochen?«
»Alles zu seiner Zeit!«, gab Mercedica provokant zur Antwort. »Aber sag mal, wo sind die anderen? Haben deine Freunde es womöglich mit der Angst bekommen und das Weite gesucht?«
Ein paar Treubrüchige lachten, andere grinsten spöttisch. Dragomira machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Darum kümmerte sich bereits Oksa …
»Ihr habt unsere Ankunft doch beobachtet!«, rief sie erregt. »Also wisst ihr sehr wohl, dass wir euch gegenüber in der Überzahl sind.«
»Meine liebe kleine Oksa«, sagte Mercedica amüsiert. »Ihr mögt in der Tat zahlreich sein, aber Überlegenheit hat nicht unbedingt etwas mit der Menge zu tun.«
In diesem Augenblick ertönte lautes Gebrüll in der Eingangshalle, dann flog die Tür zum Salon sperrangelweit auf, und ein widerwärtiges Geschöpf stob, mit gellender Stimme Beleidigungen schreiend, in den Raum.
»Igitt! Die alte Schachtel samt ihren gestörten Nachkommen! Verrotten sollen sie alle!«
»Der hat uns noch gefehlt«, seufzte Dragomira, die den Grässlon nur zu gut kannte.
Das knochige Geschöpf stürzte mit ausgefahrenen Krallen auf Dragomira zu. Diese streckte die Hand in seine Richtung: Ein winziges leuchtendes Geschoss löste sich blitzartig aus ihrer Handfläche und traf den Grässlon. Er wurde gegen das Kamingitter geschleudert und fiel auf den Rücken. Seine Schulter war versengt und qualmte. Er knurrte, allerdings mehr vor Wut als vor Schmerz, und wollte sich sofort wieder auf Dragomira stürzen.
»Ich reiß dir die Eingeweide aus dem Leib und häng sie dir als stinkende Kette um den Hals, du Hyäne!«
Diesmal packte Mercedica seinen dürren Arm und hielt ihn zurück. Der Grässlon schlug wild um sich.
»Wie ich sehe, hat er nichts von seinem Charme verloren«, lästerte Dragomira.
»Halt die Klappe, widerliche alte Hexe!«, knurrte der Grässlon.
»Ihr verfügt nicht über das Recht, Rüpelhaftigkeiten gegen die verehrte Alte Huldvolle Ausdruck zu gewähren!«, mischte sich der Plemplem ein, der vor lauter Wut ganz durchsichtig geworden war.
»Ich verfüge über das Recht zu allem, was mir passt, du hündischer Sklave!«
Jetzt hatte Oksa endgültig genug. Sie setzte den Magnetus ein: Der Brieföffner, der auf einem Schreibtisch in einer Ecke des Salons lag, landete plötzlich zwischen den verhornten, krummen Zehen des Geschöpfs und hätte ihm beinahe eine abgetrennt.
»Verfluchte Drecksgöre!«, heulte der Grässlon.
»He! Jetzt reicht es aber!«, rief Oksa außer sich. Ihr Blick fiel auf Holzscheite in einem Korb neben dem Kamin. Sie konzentrierte sich, und eine Sekunde später flog ein besonders schweres Holzstück dem Grässlon an den Kopf. Das Geschöpf taumelte einen Augenblick hin und her, ehe es auf dem Boden zusammenbrach.
»Na, na, meine Freunde! Ist denn das eine Art, unser so … unverhofftes Wiedersehen zu feiern?«, sagte plötzlich eine Männerstimme.
Die Rette-sich-wer-kann fuhren zusammen. Diese Stimme hätten sie unter Tausenden erkannt. In dem gebannten Schweigen, das auf seine Worte folgte, kam Orthon durch die Wand in den Raum, wandelte durch die Reihen der Treubrüchigen und blieb direkt vor Dragomira stehen.
»Guten Abend, Dragomira«, sagte er und neigte leicht den Kopf. »Oder sollte ich besser sagen: Guten Abend, verehrte Schwester?«
Operation »Freiheit für Marie«
P
avel und seine Freunde waren unterdessen nicht untätig geblieben: Naftali, Brune, Pierre und Feng Li huschten wie große Spinnen über die Fassade, indem sie in jedem noch so winzigen Spalt einen Halt suchten. Währenddessen vertikalierten Pavel und Cockerell von Fenster zu Fenster und spähten hinein, um Marie zu finden.
»Marie … wo bist du?«, murmelte Pavel mit zusammengebissenen Zähnen.
Da gab ihm Pierre ein Zeichen. Er hielt sich nur mit dem Zeigefinger an dem winzigen Dachvorsprung fest. Sein Gesicht war gerötet. Mit einem Salto rückwärts löste er sich
Weitere Kostenlose Bücher