Oksa Pollock. Der Treubrüchige
wir dürfen auch nicht vergessen, dass es zu dieser Jahreszeit in der Wüste Gobi schneien kann. Das könnte uns unter Umständen auch aufhalten«, sagte da Gus. »Hoffen wir, dass die Züge fahren, sonst …«
Er unterbrach sich und warf Oksa einen beunruhigten Blick zu.
»… sonst können wir nur noch auf uns selbst vertrauen«, ergänzte sie. »Und auf die Magie!«
Vom Chaos heimgesucht
E
in heftiger Sturm und schwere Regengüsse hatten ihnen die ganze Nacht das Vorankommen erschwert, dennoch gelangten der Seewolf und der Adler der Finsternis bei Tagesanbruch zur Mündung des River Clyde. Vom Deck blickten die Rette-sich-wer-kann entsetzt zur Küste. Keiner von ihnen hatte mehr schlafen können, nachdem sie der Monsterwelle entkommen waren. Nun waren sie alle erschöpft, und der trostlose Anblick, der sich ihren Augen bot, fügte dem noch ein Gefühl von Niedergeschlagenheit hinzu. Der River Clyde war über die Ufer getreten und hatte die Anwohner offenbar im Schlaf überrascht. Das Wasser hatte schrecklich gewütet: Die Häuser waren zum Teil weggespült worden, Möbelstücke, Autos, eine Unmenge zerbrochener und schlammiger Gegenstände breiteten sich dort aus, wo einst Straßen gewesen waren. Überall lagen undefinierbare Haufen aufgetürmt, die traurigen Überbleibsel menschlicher Existenzen. Die Leute irrten wie Zombies umher, völlig geschockt von der zerstörerischen Kraft der Fluten. Einige von ihnen versuchten vergeblich, Ordnung zu schaffen.
»Adieu, Da-Draußen«, flüsterte Dragomira mit Tränen in den Augen.
»Wir schaffen es schon noch rechtzeitig, Baba! Glaub mir!«, tröstete sie Oksa.
Die alte Dame verbarg das Gesicht in dem Rollkragen ihres violetten Mohairpullis und klammerte sich mit aller Kraft an der Reling fest.
»Ist alles in Ordnung, Baba?«
Dragomira wandte sich ab, sie wollte wohl nicht antworten. Oksa musterte sie besorgt.
»Deine Großmutter ist ein bisschen müde«, sagte da Abakum hinter ihr. Er legte den Arm um Oksas Schultern und zog sie mit sich in Richtung Steuerkabine.
»Bald legen wir in Glasgow an, meine Kleine!«, sagte er. »Komm, lass uns alle zusammentrommeln.«
»Was wissen die Treubrüchigen über unser Ziel?«
»Ehrlich gesagt, herzlich wenig. Und genau das treibt Orthon zur Weißglut.«
»Seinem Größenwahn dürfte das einen ziemlichen Dämpfer verpassen!«, bemerkte Oksa.
»Ja, und ich muss zugeben, dass mir das wirklich Genugtuung bereitet.«
»Aber Abakum!«, sagte Oksa mit gespielter Entrüstung. »Ein so weiser, ehrenhafter Mann wie du!«
»Feenmann hin oder her, ich bin auch nur ein Mensch, und es gibt da gewisse Dinge, auf die ich beileibe nicht verzichten möchte«, gab Abakum lächelnd zu. »Mir Orthon vorzustellen, wie er auf uns angewiesen ist und auf seinem Schiff vor Wut kocht, verschafft mir großes Vergnügen!«
»Er ärgert sich bestimmt grün und blau!«, prustete Oksa.
Wieder lächelte Abakum verschwörerisch.
Dann drehte er sich um und wandte seine Aufmerksamkeit den zwei Boximinor und der Kiste mit den Granuks zu, die er fest verschloss.
»In einer halben Stunde sind wir in Glasgow!«, verkündete Pavel durch den Lautsprecher.
Oksa holte tief Luft und sah zum grauen Himmel auf. Würden die Rette-sich-wer-kann stark genug sein, um ihr Schicksal zu meistern, das sie offenbar auf immer härtere Proben stellte?
Der Sturzregen hatte Glasgow weitgehend verschont. Nur die tiefer gelegenen Teile der Stadt waren von schlammigem Wasser überschwemmt worden, trotzdem war allgemeine Panik spürbar. Vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen, und in den verwüsteten Straßen war der Verkehr zum Erliegen gekommen.
Der Seewolf und der Adler schafften es mit Müh und Not, sich einen Weg durch das Dutzend Boote zu bahnen, die infolge des Unwetters manövrierunfähig im Hafenbecken trieben. Sie legten an einem der Stege an und gingen an Land, sorgsam darauf bedacht, dass beide Gruppen voneinander getrennt blieben.
»Dann mal los, meine Freunde«, sagte Abakum.
Und ohne einen Blick zurück machten sie sich auf den Weg in die vom Chaos heimgesuchte Stadt.
»Wir müssen uns irgendwie zum Flughafen durchschlagen. Nur wie?«, sagte Dragomira.
»Soll das heißen, dass wir ein Flugzeug nehmen müssen?«, fragte Orthon wütend.
»Wir müssen um elf Uhr den Flug nach Ürümqi bekommen«, erwiderte Dragomira in eisigem Ton und sah auf die Uhr. »Also haben wir nur noch knapp zwei Stunden, um zum Flughafen zu gelangen. Wir dürfen keine
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