Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Gus nach hinten. Das Boot der Treubrüchigen folgte ihnen im Licht des Sonnenuntergangs. Doch Pavels Warnung betraf nicht die Gegner der Rette-sich-wer-kann, sondern einen viel schlimmeren Feind: eine kolossale Welle, die sich höchst bedrohlich am Horizont auftürmte. Beide Boote wurden vom Sog der zurückweichenden Strömung erfasst. Aus dem Maschinenraum drang das Heulen der Motoren, die sich mit aller Kraft gegen die Naturgewalten stemmten.
»Das Erdbeben«, stammelte Gus. »Es hat eine Flutwelle ausgelöst!«
Pavel überließ Abakum das Steuer, eilte an Deck, entfaltete die Flügel seines Tintendrachen und hob ab. Naftali und Pierre folgten ihm sogleich. Pavel flog zum Adler der Finsternis , in dem sich der Schlüssel befand, der Zugang nach Edefia gewährte. Wenn sie das Medaillon verloren, wäre alles vorbei. Eine lange Flamme schoss aus der Kehle des Drachen.
»Sieh mal!«, rief Pierre.
Die Treubrüchigen waren auf dieselbe Idee gekommen: Ein Dutzend geübter Vertikalierer schwebte um das schwarze Schiff, und dieser Anblick schenkte Pavel neue Hoffnung. Die Riesenwelle, eine Wand aus Wasser, war nur noch wenige Hundert Meter von ihnen entfernt. Von einer Sekunde zur nächsten verdüsterte sich der Himmel, der Weltuntergang schien nahe.
»Wir müssen irgendwie von hier wegkommen!«, schrie Oksa panisch.
Schon wollte sie zu ihrem Vater hinauf, doch Dragomira hielt sie zurück.
»Baba!«, protestierte Oksa. »Ich bin eine Huldvolle, ich könnte eine wertvolle Unterstützung sein!«
»Gehorche deiner Großmutter, Oksa!«, befahl Marie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Oksa biss sich auf die Lippe. Die beiden Schiffe, die einem ungeheuren Druck ausgesetzt waren, knarrten, als würden sie jeden Moment zerbersten. Abakum drehte wie besessen am Steuer, in der vergeblichen Hoffnung, das Boot vor der zerstörerischen Kraft der Natur zu bewahren. Er betrachtete erst die näher kommende Wasserwand, dann den Himmel. Die übrigen Rette-sich-wer-kann, die sich in der Steuerkabine drängelten, folgten seinem Blick. Plötzlich wurde das ganze Boot in einen vertrauten goldenen Lichtschimmer getaucht. Der Rumpf knarrte noch lauter als zuvor, und im selben Moment erhob sich der Seewolf in die Luft, getragen von Pavel und seinen Freunden, mit der Unterstützung der Alterslosen Feen – eine Rettungsaktion in letzter Minute. Hinter ihnen geschah genau dasselbe mit dem Adler der Finsternis : Auch hier arbeiteten die Alterslosen mit einigen Treubrüchigen zusammen. Beide Schiffe schwebten ein paar Dutzend Meter über dem schwarzen Wasser in der Luft. Wenige Sekunden später sahen die Rette-sich-wer-kann und die Treubrüchigen die Monsterwelle unter sich hindurchrollen und ihren Weg in Richtung der nahen Küste fortsetzen. Man hörte die Alarmsirenen der Küstendörfer heulen, und weitere Flugzeuge tauchten am Himmel auf. Und dann trat ein, was Pavel bereits vor wenigen Tagen befürchtet hatte: Vier Piloten, die aufmerksamer waren als ihre Mannschaftskameraden, entdeckten die zwei in goldenes Licht getauchten Boote in der Luft. Zudem wurde eins der beiden auch noch von einem Drachen getragen! Bald darauf näherten sich die vier Flugzeuge den fliegenden Schiffen.
»Jetzt ist es aus«, stöhnte Oksa, als sie die Flugzeuge direkt auf sich zurasen sah. »Sicher halten sie uns für Außerirdische und machen uns für all diese Katastrophen verantwortlich! Die werden uns abschießen, garantiert!«
In dem Moment richtete sich der kleine Plemplem auf und stieß einen schrillen, ängstlichen Pfiff aus. Darauf geschah etwas sehr Seltsames: Die Zeit schien sich in die Länge zu ziehen wie ein Gummiband. Die Rette-sich-wer-kann bewegten sich im Zeitlupentempo, als würden ihre Gliedmaßen in dickflüssigem Kleber stecken. Dieser Effekt machte sich bei den Von-Draußen noch stärker bemerkbar, ihre Bewegungen stockten völlig, genauso wie ihre Gedanken, eingefroren von der verlangsamten Zeit. Verblüfft schaute Oksa zu Gus. Er sah wie gelähmt aus, den Blick fest auf sie gerichtet. Marie und die wenigen anderen Von-Draußen wiesen dieselbe starre Haltung auf. Ebenso die vier Piloten, die mitten im Angriff gestoppt worden waren.
»Haaast duuuuuuu diiiie Zeeeit angehaaalten?!«, fragte Oksa den kleinen Plemplem.
Doch der Kleine guckte nur verschreckt und antwortete nicht.
»Unser kleiner Freund ist ein Kind, er kann seine Furcht noch nicht bezwingen«, erklärte Abakum langsam und unter großen Mühen. »Und zu unserem
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