Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Schlimmste war, dass er es verstehen konnte. Seinetwegen war die Familie zerbrochen, und sein Vater war abgehauen. Vielleicht war er ja tot, ertränkt von einer der Mörderwellen, die mehr oder weniger überall auf der Welt wüteten. Laut den letzten Informationen aus dem Internet traten in der Nordsee gerade besonders heftige Flutwellen auf, und nur wenige Bohrinseln hatten ihnen standgehalten. Er machte sich große Sorgen und quälte sich mit Selbstvorwürfen. Sein Vater war ein Da-Draußen und hatte nur geringe Chancen, die Naturkatastrophen zu überleben. Das wäre anders gewesen, wenn er bei seiner Familie geblieben wäre.
Auch Kukka war zum Teil für sein Leid verantwortlich. Tugdual tat seine Bestes, um ihr aus dem Weg zu gehen, doch sie schlich immerzu in Gus’ Nähe herum, der wiederum ständig in Oksas – und damit auch in seiner – Nähe war. So bildeten sie ein seltsames Gespann, zu dem sich auch Zoé gesellte. Sie mochte Tugdual nicht besonders. Besser gesagt, sie misstraute ihm zu sehr, um ihn mögen zu können. Das wusste er, denn er war sich ganz und gar darüber im Klaren, was für ein Bild er vermittelte, und er wunderte sich nicht darüber, wenn man ihn nicht gerade ins Herz schloss. Er stand zu seinem Aussehen, zu seiner Haltung, zu seinen Entscheidungen, und Zoés offenes Misstrauen war ihm viel lieber als die Hinterhältigkeit seiner Cousine. Kukka gelang es zu oft, ihn aus der Reserve zu locken. Es kostete ihn enorm viel Energie, sich gegen ihre gemeinen Attacken zu wappnen. Bislang hatte er noch jedes Mal das Gesicht wahren können, doch innerlich kochte er, und seine selbst auferlegte Zurückhaltung machte ihm das Leben allmählich schwer.
Und dann war da noch Oksa. Mehr als irgendjemand sonst schwebte sie in Lebensgefahr. War sie sich dessen bewusst? Er hatte eine Unterhaltung zwischen Orthon und Agafon belauscht, die sich besorgt äußerten, weil das Chiroptergift, das der Jungen Huldvollen durch Gus’ Biss übertragen worden war, ihren Tod zur Folge haben könnte. Das störte sie allerdings weniger als die Tatsache, dass ihre Pläne durchkreuzt würden, falls Oksa starb, bevor sie die Kammer des Umhangs betreten hatte. Tugdual blickte zu Oksa und versuchte, ruhig zu bleiben. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig: Sich nichts anmerken zu lassen, das war seine einzige Waffe. Er sah, wie Gus Oksa anblickte. Er war heillos verliebt in sie, das war sonnenklar. Wie konnte man nur so durchschaubar sein? Verstand Gus denn nicht, dass er sich damit eine Blöße gab? Tugdual empfand seine eindringlichen Blicke als mitleiderregend, ja, geradezu lächerlich. Doch im Grunde seines Herzens wünschte er sich nichts sehnlicher, als so zu sein wie er: natürlich und spontan.
»Ihr hört mir ja gar nicht zu!«, ließ sich Oksas Stimme vernehmen.
Die Jungen zuckten zusammen und schreckten aus ihren Gedanken auf.
»Wir müssen alles noch mal durchgehen!«, verkündete sie aufgeregt. »Das Wackelkrakeel hat gerade berichtet, dass der Flughafen von Edinburgh geschlossen wurde.«
Sofort tippte Tugdual auf seinem Handy herum.
»Hast du noch Empfang?«
»Ja, der ist okay«, beruhigte er sie.
»Schau doch mal nach, was mit Glasgow ist«, schlug Gus vor.
Nach wenigen Augenblicken war die Entscheidung getroffen.
»Alles in Ordnung!«, sagte Tugdual. »Der Flug von Glasgow nach Ürümqi ist nicht gestrichen.«
»Ein Glück!«, sagte Dragomira, die zu ihnen gekommen war.
»Ändert das etwas am weiteren Verlauf der Reise?«, fragte Pavel beunruhigt.
»Nein«, sagte Oksa, die über Tugduals Schulter auf das Handydisplay schaute. »Von Ürümqi aus nehmen wir dann den Zug nach Quingshui. Die Fahrt dauert etwa zwölf Stunden, und der Zug fährt täglich. Von Quingshui aus können wir in einen anderen Zug nach Saihan Toroi umsteigen. Dann müssen wir nur noch etwa hundert Kilometer durch die Wüste Gobi zurücklegen, um zum Goshun-See zu kommen.«
»Das habt ihr toll gemacht, Kinder!«, lobte sie Dragomira ernst. »Ich hoffe nur, dass unsere Reise ab jetzt ruhiger verlaufen wird.«
»Das lässt sich schwer vorhersagen«, wandte Tugdual ein. »Das Chaos hat die ganze Welt erfasst. Alle fliehen, weg von den Küsten und den Vulkanen. Zwischen Ürümqi und dem Goshun-See gab es einige Erdbeben, aber sie haben offenbar keinen größeren Schaden angerichtet. Die Zugstrecken sind nicht davon betroffen. Es darf nur nichts geschehen, was den Weg unpassierbar macht, bevor wir am Goshun-See ankommen.«
»Aber
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