Oksa Pollock. Der Treubrüchige
an sich. Ihr Schweigen sagte mehr als tausend Worte. Der Bus knarrte, als die Rette-sich-wer-kann einer nach dem anderen ausstiegen. Zuletzt hob Pavel seine Frau hoch, um sie hinauszutragen. Ohne die Hand ihrer Mutter loszulassen, folgte Oksa ihnen.
»Schau mal, wie schön es hier ist«, erklang Gus’ unsichere Stimme hinter ihr.
Das Dorf war verlassen. Die Häuser waren alle zerfallen, hinter den eingestürzten Mauern sahen sie vom Staub bedeckte Räume, die noch eingerichtet waren, Möbel, die am Boden lagen. Doch inmitten der Verwüstung stand ein fast unversehrter buddhistischer Tempel aus Holz und grauem Stein. Nur am Dach fehlten ein paar Ziegel. Der Rand des Dachs war nach oben gebogen und mit kleinen Statuen von Männern verziert, die auf Drachen ritten. Die Sonne ging unter, und das Zwielicht verlieh dem uralten Gebäude einen unerklärlichen Zauber.
»Du hast recht«, murmelte Oksa, »es ist wunderschön.«
Entschlossen ging Dragomira auf den Tempel zu: Hier würde sie heute zusammen mit ihren Lieben übernachten. Sie stieg die paar Stufen zur Eingangstür hinauf und ließ eine Phosphorille zum Vorschein kommen, ehe sie über die Schwelle trat.
»Ich hoffe nur, dass hier keine Gespenster von alten Mönchen herumgeistern«, flüsterte Gus Oksa mit Gruselstimme ins Ohr.
Sie zuckte zusammen und gab ihm einen Klaps auf die Schulter.
»Hör auf damit, du gemeiner Kerl!«
»Komm, wir sehen uns mal um.«
Oksa lächelte ihm zu, froh über seinen Versuch, sie aufzumuntern, und folgte ihm. Das Innere des Tempels war verfallen, dennoch war es ein beruhigender Zufluchtsort. Das Kohlenbecken mitten in dem großen zentralen Raum verbreitete bald dank Dragomiras Lichterlohs und der Reisigbündel, die Pierre und Abakum gesammelt hatten, eine wohlige Wärme. Die Rette-sich-wer-kann durchsuchten die umliegenden Häuser und kehrten mit den unterschiedlichsten Zutaten wieder, aus denen man ein herrliches Mahl zaubern konnte: Kartoffeln, Dörrfleisch, Schweineschmalz und Nüsse.
Oksa spähte begierig auf die Kartoffeln, die unter der Glut begraben lagen. »Ich sterbe vor Hunger«, gab sie beschämt zu.
»Du hast doch nicht etwa einen Wachstumsschub?«, sagte Gus mit gespielter Munterkeit.
Oksa sah ihn mit glänzenden Augen an. Ihr war halb zum Lachen, halb zum Weinen zumute.
»Ach«, seufzte sie, »ich habe einfach nur das Gefühl, dass ich seit Tagen nichts mehr zu beißen hatte.«
»Macht Ihr eine Diät?«, fragte sie der Kapiernix verständnislos. »Aber Ihr seid doch dünn wie eine Bohnenstange!«
Er knackte eine Nuss auf, spuckte die Schale aus und fing an, auf der Nuss herumzukauen.
Oksa strich dem Geschöpf über die runzlige Haut. »Du bist wirklich unbezahlbar«, sagte sie schmunzelnd.
Alle ließen sich um das glühende Kohlenbecken nieder. Instinktiv bildeten die einzelnen Familien Grüppchen: die Pollocks, die Bellangers, die Knuts, die Fortenskys. Doch wie auf Vereinbarung sprach keiner das Thema an, das sie alle ängstigte: die mögliche Zurückweisung der Von-Draußen am Tor nach Edefia. Die Vorstellung war einfach unerträglich. So schwiegen alle und hofften insgeheim, dass alles gut gehen würde.
Müde und satt legte Oksa den Kopf an die Schulter ihrer Mutter.
»Es wird sich alles finden, Liebes«, sagte Marie und strich ihrer Tochter übers Haar. »Was auch geschieht, du darfst den Glauben an dich nicht verlieren. Den Glauben an uns. Du trägst eine enorme Verantwortung und musst alles tun, um deine Aufgabe zu erfüllen. Alles. Das ist das Wichtigste. Und halte dir immer vor Augen, dass keine Lage jemals wirklich verzweifelt ist, dass es immer eine Lösung gibt.«
Oksa unterdrückte einen Schluchzer.
»Glaubst du, Mama?«
»Natürlich glaube ich das!«
Marie war so unglaublich zuversichtlich! Ihre Worte hallten im Halbdunkel des Tempels wider und berührten alle, die sie hörten.
»Du bist nicht allein und wirst es nie sein, vergiss das nicht, mein Schatz!«
Eine große Mattigkeit überfiel Oksa. Ihr Blick schweifte zu Tugdual, der sie ernst musterte. Er zumindest würde nicht von seiner Familie getrennt werden, wenn die Von-Draußen nicht nach Edefia gelangten. Alle Knuts waren Von-Drinnen – außer Tugduals Vater, doch der war bereits in dem Tumult verschwunden, gegen den die ganze Welt ohne eine Chance auf Erfolg ankämpfte.
»Geh mal zu Gus«, flüsterte Marie ihrer Tochter zu. »Er braucht dich.«
Oksa ließ den Blick durch den Raum wandern: Gus war nicht mehr da. Ein Stück
Weitere Kostenlose Bücher