Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Überlebensinstinkt vorgaukelte? Oksa sah genau hin, und dann erfüllte sie ein unfassbares Glücksgefühl. Die Sandwolke löste sich endlich auf! Es wurde immer heller und der Wind legte sich allmählich.
»Gerettet!«
Im ganzen Zug erklangen Freudenschreie. Die meisten Fahrgäste weinten vor Erleichterung.
»Wo ist Papa?«, fragte Oksa besorgt.
Sie spürte ihn nicht mehr. Sicher war ihr Anderes Ich unbemerkt wieder in die Tiefen ihres Bewusstseins zurückgekehrt. Abakum stoppte den Zug und fuhr seinen Teleskoparm aus, um die Tür der Lokomotive zu öffnen. Sand rieselte nach draußen und bildete im Nu einen kleinen Berg. Oksa sprang mit einem Satz hinaus.
»PAPA!«, schrie sie mit rauer Stimme. »PAPA! Wo bist du?«
Es war wieder ruhig. Der Himmel war hell, klar und vollkommen wolkenlos. Um sie her erstreckte sich die Wüste Gobi eintönig und endlos wie zuvor. Das einzig Lebendige war die enorme Sandwolke, die in der Ferne ihren zerstörerischen Weg fortsetzte und dabei Tonnen von gelbem Sand aufwirbelte.
Oksa fiel auf die Knie.
»Papa …«, schluchzte sie.
Alarmiert kletterten Dragomira und Abakum aus dem Zug. Sie suchten den Himmel und die Sanddünen mit dem Blick ab. Vergeblich. Mit einer letzten Kraftanstrengung vertikalierte Oksa ein paar Meter in die Höhe.
»Da ist er!«, schrie sie vom Zugdach herunter. »Papa!«
Pavel lag der Länge nach da, bedeckt von seinem erschöpften Tintendrachen, der ihn mit seinem goldbraunen Panzer beschützte. Kaum näherte sich Oksa, verschmolz der Drache wieder mit der Tätowierung auf dem Rücken von Pavel. Der streckte seiner Tochter die Arme entgegen.
»Wir haben es geschafft …«, stieß er zwischen zwei Hustenattacken hervor.
Oksa warf sich auf ihn und umarmte ihn.
»Papa! Du warst phantastisch!«
Oben auf der Düne beglückwünschten sich die ausgestiegenen Fahrgäste und applaudierten laut. Pavel sah zu den Rette-sich-wer-kann und zu den Treubrüchigen hinüber, die sich sofort wieder in zwei Gruppen aufgeteilt hatten.
»Wir waren alle phantastisch«, sagte er ergriffen. »Ausnahmslos!«
Er drehte sich zur Seite und kniff plötzlich verblüfft die Augen zusammen. Oksa folgte seinem Blick. In der Ferne war ein Lichtkegel zu sehen, der senkrecht nach oben zeigte, er leuchtete in einer merkwürdigen Farbe – einer Farbe, die die Junge Huldvolle und ihr Vater zuvor nie gesehen hatten.
Der letzte Abend
A
ber wenn ich dir doch sage, dass ich nichts sehe! Ich bin eben nur ein gewöhnlicher Von-Draußen mit gewöhnlichen Augen, die nur gewöhnliche Dinge sehen! Deinen verdammten Lichtstrahl sehe ich nicht, kapier das doch endlich!«
Wütend trat Gus gegen den Sitz vor ihm.
»Autsch!«, erklang da Brunes Stimme.
»Entschuldigung«, murmelte Gus. »Das hat nichts mit dir zu tun. Oksa ist schuld.«
»Na, so was«, seufzte die beleidigt und sah angestrengt nach draußen. Zwei Stunden zuvor hatte der staubbedeckte Zug seine Passagiere schließlich in Saihan Toroi abgesetzt. Der gelbe Drache war über die kleine Stadt hinweggefegt, und nun leckten die leidgeprüften Bewohner ihre Wunden. Manche kannten nur noch einen Gedanken: aus den verwüsteten Gebieten zu fliehen. Und so stürzten, kaum dass der Zug im Bahnhof eingelaufen war, Horden panischer Männer und Frauen darauf zu. Die Zugstrecke endete in Saihan Toroi, und alle Züge fuhren von da aus wieder zurück nach Süden. Im Norden wurde die Erde laut den letzten Informationen unablässig von Beben erschüttert, und deshalb wollten alle von hier weg.
Bei dem allgemeinen Durcheinander scherte sich niemand um die haarsträubenden Geschichten einiger Passagiere, die behaupteten, manche ihrer Mitreisenden hätten magische Fähigkeiten und könnten zum Beispiel – so schworen sie hoch und heilig – fliegen oder sich in Drachen verwandeln. Die Rette-sich-wer-kann und die Treubrüchigen nutzten das Chaos, um sich unauffällig zu entfernen. Dragomira und Abakum gelang es, in der zerstörten Stadt zwei uralte Busse »aufzutreiben«. Alle stiegen ein, und sie setzten ihre Fahrt in Richtung Norden und zum Goshun-See fort.
Die klapprigen Busse holperten über die Schlaglochpiste, doch die Passagiere waren so müde, dass keiner auf die Idee kam, sich darüber zu beklagen. Nun, da der Absolute Wegweiser am Horizont aufgetaucht war, hatte Orthon sich eilends ans Steuer des ersten Busses gesetzt. Naftali folgte ihm am Lenkrad des zweiten Busses.
»Lass ihn ruhig in dem Glauben, dass er einen Vorsprung
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